Der Hetzer konnte sein Glück über die Steilvorlage kaum fassen. „In den Vereinigten Staaten erscheint augenblicklich ein Buch des Juden Kaufman, in dem unter dem Titel: ,Deutschland muss vernichtet werden!’ uns klar prophezeit ist, was uns droht, wenn wir einmal die Haltung verlören und damit den Sieg preisgäben“, diktierte Joseph Goebbels in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1941 seinem Sekretär.
Noch hatte der Propagandaminister die Broschüre nicht selbst gelesen. Trotzdem ließ er festhalten: „Es wird dort im Ernst der Vorschlag gemacht, die ganze deutsche Bevölkerung auszurotten bzw. zu sterilisieren. So dumm und so absurd dies Projekt ist, es zeigt doch, in welcher Geistesverfassung sich unsere Gegner befinden.“
Für wie groß er das politische Potenzial hielt, wurde im nächsten seiner täglichen Diktate klar: „Mittags fliege ich nach Salzburg. Unterwegs habe ich Gelegenheit, das Buch des Juden Nathan Kaufmann aus den USA: ,Deutschland muss sterben!’ im Original durchzulesen. Es ist so aufreizend in seinen Hypothesen wie in den daraus gezogenen Schlüssen, dass einem direkt die Zornesröte ins Gesicht steigt.“
Durchaus treffend stellte Goebbels fest, der Autor habe „der Feindseite damit einen wahren Bärendienst geleistet“. Darin immerhin war sich der Nationalsozialist, nach Hitler einer der drei einflussreichsten Männer im Dritten Reich, einig mit Howard K. Smith, einem jungen US-Journalisten, der 1941 als Korrespondent aus Berlin berichtete: „Niemals hat jemand der Sache, für die sein Volk gekämpft und gelitten hat, einen derart gewissenlos schlechten Dienst erwiesen wie Nathan Kaufmann. Seine verblasene Broschüre lieferte den Nazis eines ihrer besten Propagandageschütze.“
Was war geschehen und – vor allem – was hatte es denn nun tatsächlich mit diesem Heft auf sich? Einen Monat nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion hatte sich das NS-Regime entschieden, die formal noch neutralen USA und vor allem Präsident Franklin D. Roosevelt frontal zu attackieren.
Beim Sammeln von geeignetem Material war das Auswärtige Amt auf eine Rezension gestoßen, die am 24. März 1941 im „Time-Magazine“ erschienen war, immerhin der wichtigsten Zeitschrift der USA. Es handelte sich um den in Form einer Satire gefassten Verriss einer Broschüre mit dem Titel „Germany must perish“. Der Rezensent kam zum sarkastischen Schluss: „Überraschte Leser fragten sich, ob das seltsame Büchlein ein Meilenstein sei, das erste Auftreten des Streicher-Geistes in den USA.“
Als Autor firmierte ein gewisser Theodore N. Kaufman, wobei das Mittelinitial gerade nicht für den vermeintlich „typisch jüdischen“ Vornamen Nathan stand, sondern für „Newman“, den Mädchennamen seiner Mutter Fannie – das war gängig in den USA. Er war 1910 in Manhattan geboren und verbrachte den Großteil seines Lebens im Umfeld der Metropole New York. Kaufman, der von 1930 bis 1942 Theaterkarten in Newark verkaufte, war vor allem aber ein Exzentriker, der gern radikale Ideen formulierte.
Resonanz hatte er damit keine. Zwar behauptete Kaufman, Präsident einer gewissen „American Federation of Peace“ zu sein, doch die gab es eigentlich gar nicht – zumindest war der Chef ihr einziges Mitglied. 1939 hatte er im Namen dieser inexistenten „Federation“ den US-Kongress aufgefordert, alle US-Bürger sterilisieren zu lassen, damit „ihre Kinder nicht mörderische Monster“ würden.
Dass dieser völlig irre Vorschlag irgendwie aufgegriffen worden wäre, ist nicht bekannt. Allerdings kam Kaufman – die Meinungsfreiheit in den USA wurde damals und wird heute extrem weit ausgelegt – dafür auch nicht in psychiatrische Behandlung. So konnte er Ende 1940 seine 104 Seiten starke Broschüre „Germany must perish“ verfassen, im Selbstverlag herstellen und vermutlich Mitte Februar 1941 erscheinen lassen. Rezensionsexemplare verschickte Kaufman in kleinen grauen Pappsärgen. Das Heftchen wurde wie jedes in den USA erschienene Druckerzeugnis in die Library of Congress aufgenommen, blieb ansonsten – abgesehen vom Verriss in „Time“ – aber ohne jede Resonanz.
Bis zum 23. Juli 1941. An diesem Mittwoch nämlich griff ein Sprecher des Auswärtigen Amtes die Broschüre auf und verkündete auf der Reichspressekonferenz, „die vorliegenden Auszüge aus dem von Roosevelt inspirierten Buch seien „ihrem unerhörten Inhalt entsprechend stärkstens hervorzuheben und anzuprangern“. Man wisse, dass der US-Präsident einzelne Kapitel selbst diktiert habe – selbstverständlich eine freie Erfindung. „Das Buch“, hieß es weiter, „habe eine Riesenauflage erreicht und müsse sehr ernst genommen werden“. In Wirklichkeit hatte es ein paar hundert Exemplare gegeben.
Das wollte Goebbels ändern. Er ließ eine Übersetzung mit wenigen ausgewählten, umfassend propagandistisch kommentierten Passagen aus Kaufmans Broschüre erarbeiten – die dann unter dem Titel „Das Kriegsziel der Weltplutokratie. Dokumentarische Veröffentlichung zu dem Buch des Präsidenten der amerikanischen Friedensgesellschaft Theodore Nathan Kaufman ,Deutschland muss sterben’“ tatsächlich millionenfach verbreitet wurde. Das Dritte Reich und das deutsch besetzte Europa wurden geradezu geflutet damit.
Erst in dieser extrem zugespitzten Form (aus 104 Seiten im Original waren nun 32 geworden – einschließlich der Kommentare aus dem Goebbels-Ministerium) wurde „Germany must perish“ ab September 1941 einem größeren Publikum bekannt und als „Kaufman-Plan“ berüchtigt. Es war ein reines Propagandaprodukt.
Allerdings war schon der ursprüngliche Text völlig verrückt. „Mit reichlichem Zitatenschatz, erworben unter anderem bei Nietzsche, Treitschke, Karl Lamprecht, Paul Rohrbach und besonders häufig der alldeutschen Publizistik der Jahrhundertwende entlehnt, untermauerte Kaufman seine These, die Deutschen seien — von der germanischen Frühzeit bis zum Alldeutschen Verband – grundsätzlich von Rassedünkel, Weltmachtstreben und der Lust zur Barbarei beseelt“, fasste der Historiker Wolfgang Benz den Inhalt der Broschüre zusammen.
Das vorletzte Kapitel mit der Überschrift „Death to Germany“ zog daraus die Konsequenz: Nicht mehr wie noch 1939 sollten alle US-Bürger sterilisiert werden, sondern alle Deutschen. Ferner müsse Deutschland von der Landkarte Mitteleuropas verschwinden – Kaufman hatte dafür eigens eine Karte gezeichnet: Berlin sollte polnisch werden, Hamburg niederländisch, Mainz, Essen, Erfurt und München französisch, Leipzig, Dresden und Wien tschechisch.
Howard K. Smith, der nach seiner Rückkehr in die USA nach Hitlers Kriegserklärung die Broschüre im Original lesen konnte, war erschüttert. In seinem 1942 veröffentlichten Buch „Last Train from Berlin“ schrieb er: „Mithilfe dieses Machwerks konnte der Zerfall des Nazismus möglicherweise um Jahre aufgehalten werden. Um Jahre, die Millionen gutwilliger Menschen auf der ganzen Welt den Tod und ganze Nationen Hunger und Zerstörung bringen können.“
Ganz so groß war die Wirkung von Kaufmans Broschüre und ihrer propagandistischen Nutzung durch Goebbels wohl doch nicht. Niemand, der klar denken konnte, nahm den Text ernst. Der Autor übrigens war zunächst über die Resonanz im Dritten Reich erfreut und ließ im Herbst 1941 eine zweite Auflage von „Germany must perish“ erscheinen, mit der Werbebotschaft: „The Book that Hitler fears“.
Doch im März 1942 folgte, abermals im Selbstverlag, ein 16 Seiten kurzer Text, der einen völlig anderen Tonfall anschlug. Es handelte sich um ein Zehn-Punkte-Programm, das gegenüber den offiziellen alliierten Kriegszielen, aber auch im Vergleich mit der Besatzungspolitik der Sieger in Deutschland 1945/46, „geradezu harmlos“ war, wie Wolfgang Benz urteilt.
Kaufman schlug vor, die deutsche Jugend im demokratischen Sinne zu erziehen, die deutsche Streitkräfte aufzulösen, Reparationen zu verlangen, die Wirtschaft zu lenken, Berlin den Status der Hauptstadt abzuerkennen, eine neue Währung einzuführen, die Presse und den Außenhandel vorübergehend zu kontrollieren, NS-Funktionäre zu bestrafen und – erstaunlicherweise erst der letzte Punkt – alle von Deutschland besetzten Gebiete zurückzugeben.
Nach der Veröffentlichung dieses geradezu konträren Programms verschwand Theodore N. Kaufman aus der Öffentlichkeit. Er starb zwar erst am 1. April 1986, aber über seine 44 weiteren Lebensjahre ist so gut wie nichts bekannt. Die Goebbels-Version seiner ohnehin schon völlig irren Vorschlägen von 1941 jedoch hielt sich – teilweise, in rechtsextremen Kreisen, bis heute.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Juli 2021 veröffentlicht.