Wer einen Krieg gewinnt, interessiert sich normalerweise wenig für die Schäden im Land des Feindes. Normalerweise – obwohl das eigentlich kurzsichtig ist. Denn gerade die Auswirkungen der Angriffe ermöglichen es, die „Effizienz“ des eigenen Einsatzes zu beurteilen: Wurden die gestellten Aufgaben erreicht? Oder lagen die Ergebnisse deutlich, vielleicht sogar weit unter den Erwartungen?
1944 richtete US-Präsident Franklin D. Roosevelt zum ersten Mal eine große, aus Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen bestehende Kommission ein, um die Auswirkungen des Bombardements deutscher Städte zu ergründen. Die vordringlichste Aufgabe dieser Unites States Strategic Bombing Survey (USSBS) genannten Institution war, aus den Erfahrungen der Luftangriffe auf deutsche Städte Erkenntnisse für den gerade erst anlaufenden strategischen Luftkrieg gegen Japan zu gewinnen.
Mehr als tausend Experten und Hunderte Hilfskräfte führten sehr bald nach der Besetzung durch westliche Truppen in Deutschland (und einigen von der Wehrmacht besetzten Ländern) insgesamt 3711 Interviews, besichtigten Industrie- und sonstige Anlagen und nahmen die dortigen Zerstörungen systematisch auf. Ihr wesentliches Ergebnis lautete in der Zusammenfassung der Historikerin Sophia Dafinger von der Universität Augsburg prägnant: „Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung hatten militärisch keinen Sinn.“
Auch die Schäden an der deutschen Kriegswirtschaft waren geringer als veranschlagt. Doch diese Einsicht kam zu spät, um noch Auswirkungen für den Luftkrieg gegen Japan zu haben.
Am 15. August 1945, dem Tag der faktischen Kapitulation des japanischen Kaisers, erweiterte der neue US-Präsident Harry S. Truman den Auftrag des USSBS auf den pazifischen Kriegsschauplatz. Von September bis Dezember 1945 waren auch hier Hunderte US-Experten tätig, führten 3500 Interviews und sammelten umfangreiches weiteres Material – für insgesamt 108 einzelne Berichte.
Einerseits sollten die Auswirkungen des konventionellen Bombardements auf Tokio und weitere japanische Großstädte ergründet werden – vor allem aber, das darf man jedenfalls annehmen, ging es um die Zerstörungen in Hiroshima und Nagasaki, den ersten beiden Städten, die mit Kernwaffen angegriffen wurden.
Die Zusammenfassung der USSBS-Reports zu den Atombombenabwürfen erschien im Juli 1946 mit 54 Seiten. Die Broschüre, seinerzeit kostenlos vom US Government Printing Office verschickt, findet sich in allen wesentlichen Fachbibliotheken in der Welt. Sie ist inzwischen auch im Internet verfügbar, sowohl als Original-Scan im PDF-Format wie als durchsuchbare Textdatei. Wer allerdings noch mehr wissen will über die Einzelberichte, muss immer noch in die US National Archives in College Park bei Washington D.C.
Die Fülle an Informationen über die beiden Atombombenabwürfe ist jedoch schon in der gedruckten Zusammenfassung enorm. Sie zeigen die brutale Bilanz. Beispiel Hiroshima: Ziemlich genau um 8.15 Uhr Ortszeit am Morgen des 6. August 1945 fiel die Bombe „Little Boy“ in einer Höhe von 9470 Meter aus dem Schacht des B-29-Bombers „Enola Gay“.
Nach 45 Sekunden freiem Fall (nach anderen Angaben erst nach 46 oder sogar 53 Sekunden) zündete die 4,4 Tonnen schwere Konstruktion in genau der geplanten Höhe von 600 Metern leicht nordwestlich über dem Stadtzentrum von Hiroshima. „Als die Bombe explodierte“, beschreibt der Bericht die Detonation, „wurde zuerst ein intensiver Blitz beobachtet, als ob eine große Menge Magnesium entzündet worden wäre. Weißer Rauch hüllte alles ein. Zur gleichen Zeit war zuerst im Zentrum der Explosion und kurze Zeit später in anderen Gebieten ein gewaltiges Brüllen zu hören; danach kamen eine alles zermalmende Druckwelle und intensive Hitze.“
Hiroshimas Stadtgrenzen erstreckten sich damals bis zu einigen niedrigen Hügeln im Westen und Nordosten eines fächerförmigen Deltas des Flusses Ota. Die gesamte Fläche umfasste seinerzeit 68,3 Quadratkilometer, von denen 33,7 Quadratkilometer dicht bebaut waren, weitere 18,1 mäßig; der Rest bestand aus kaum bebauten Flächen, Farmen, Gewässern und bewaldeten Hügeln.
Im Herzen der Stadt lebten auf rund zehn Quadratkilometern dicht bebauter Fläche im August 1945 drei Fünftel der Gesamtbevölkerung. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich wahrscheinlich 245.000 Menschen in der Stadt, davon 140.000 im Zentrum.
In Hiroshima waren die Wohngebiete fast alle aus Holz gebaut; etwa die Hälfte war nur einstöckig, fast der gesamte Rest anderthalb bis höchstens zweistöckig. Die Dächer bestanden größtenteils aus gebrannten schwarzen Ziegeln; es gab praktisch keine gemauerten Wände. Die vergleichsweise wenigen Gebäude aus Stahlbeton, fast nur öffentliche oder Firmenbauten, waren von sehr unterschiedlicher Qualität.
Vereinfacht kann man den USSBS-Bericht zusammenfassen: Ältere private und öffentliche Bauten waren bemerkenswert schlecht errichtet; neuere Bauten dagegen teilweise sehr gut, insbesondere die „Produktausstellungshalle der Präfektur Hiroshima“, entstanden nach Plänen des tschechischen Architekten Jan Letzel 1915.
Ihre Struktur überstand, obwohl das Gebäude nur 140 Meter von dem Punkt entfernt lag, über dem „Little Boy“ detonierte, die Druckwelle und die enorme Hitze von mindestens 6000 Grad Celsius zum Teil; heute ist die Ruine von Letzels Entwurf als „Atomdom“ Teil des Gedenkparks in Hiroshima.
Aufgrund von Messungen schätzten Physiker des US-Atomwaffen-Programms Manhattan Project die tatsächlich freigesetzte Energie auf die Entsprechung von etwa 16.000 Tonnen des hochbrisanten konventionellen Sprengstoffes TNT; vorausgesagt hatten sie eine „Leistung“ von 13.400 Tonnen. Enorm viel, aber dennoch wenig im Vergleich zur größten jemals gezündeten Wasserstoffbombe, der „Zar“, die 1961 auf eine etwa 3000-mal größere Detonationsleistung kam. Heutige US-Atombomben können je nach Typ auf Werte zwischen 0,2 Kilotonnen TNT-Äquivalent und 1,2 Megatonnen eingestellt werden
In Hiroshima starben einem Umkreis von einem Kilometer um den Nullpunkt Menschen und Tiere fast augenblicklich am enormen Druck und an der Hitze der Explosion. Holzhäuser und andere Strukturen wurden fast ausnahmslos zerstört; ein Feuersturm brach aus. Erste Schätzungen gingen von 100.000 bis 180.000 unmittelbar bei der Explosion von „Little Boy“ getöteten Menschen aus; die USSBS-Experten schätzten Wochen später aufgrund ihrer Untersuchungen die Zahl auf 70.000 bis 80.000, wobei ebenso viele oft schwer verletzt wurden.
Nach offiziellen Zahlen waren 62.000 der insgesamt 90.000 Gebäude im Stadtgebiet zerstört, also 69 Prozent. Weitere 6000 wurden schwer beschädigt, die meisten anderen hatten Glasbruch oder Schäden an den Dächern.
Nur drei der 45 zivilen Krankenhäuser im Stadtgebiet konnten in den Tagen nach der Explosion noch genutzt werden; die beiden großen Armeekrankenhäuser waren unbrauchbar. Von den mehr als 200 Ärzten in Hiroshima waren über 90 Prozent tot oder lebensgefährlich verletzt; nur etwa 30 Ärzte konnten einen Monat nach der Explosion ihre Aufgaben erfüllen. Von 1780 Krankenschwestern wurden 1654 getötet oder verletzt.
Dennoch hatte die verwüstete Stadt bereits am 1. November wieder 137.000 Einwohner. Schon am 7. August 1945 wollten so viele der Menschen, die nach der Explosion geflüchtet waren, zurückkehren, dass die japanische Armee weiträumig Straßensperren errichten musste. Die Strahlenbelastung war damals allerdings noch weitgehend unbekannt.
„Das auffälligste Ergebnis der Atombomben“, bilanziert die Zusammenfassung der USSBS-Reports zu den Atombombenabwürfen, „war die große Zahl der Opfer. Die genaue Anzahl der Toten und Verletzten wird aufgrund der Verwirrung nach den Explosionen nie bekannt werden. Personen wurden möglicherweise bis zur Unkenntlichkeit in den eingestürzten Gebäuden verbrannt und ihre sterblichen Überreste in einer der Massenkremationen der ersten Woche nach dem Angriff eingeäschert oder starben außerhalb der Stadt.“
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