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Zweiter Weltkrieg Holocaust 1942

In 100 Tagen ermordete die SS fast 1,5 Millionen Juden

Nicht erst 1944, sondern von August bis Oktober 1942 erreichte der Holocaust seinen Höhepunkt. In 100 Tagen tötete die SS etwa 1,47 Millionen Juden, wie die neue Studie eines Statistikers zeigt.
Leitender Redakteur Geschichte
Stationen des Holocaust

Es begann mit Boykottmaßnahmen und endete im industriell betriebenen Völkermord: Die Judenverfolgung der Nazis eskalierte in einer Gewaltspirale, der sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Quelle: WELT

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Auch an sich bekannte Tatsachen können verstören, wenn sie in ungewohnter Form aufbereitet werden. Das zeigt ein jetzt erschienener Aufsatz des Statistikers Lewi Stone von der Universität Tel Aviv. Der Professor für mathematische Biologie hat ausgerechnet, dass im Spätsommer 1942 der organisierte Judenmord der Nationalsozialisten seinen absoluten Höhepunkt erreichte.

In dieser Zeit starben in den nun drei mit voller „Kapazität“ betriebenen Mordlagern der „Aktion Reinhardt“ in Belzec, Sobibor und Treblinka insgesamt knapp 1,1 Millionen Menschen. Weitere rund 302.000 Opfer wurden von Männern der SS-Einsatzgruppen in der Ukraine und Südrussland erschossen. Noch einmal 91.400 Juden starben in dieser Zeit in Auschwitz und Birkenau.

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Quelle: Zoomin.TV

Damit übertraf die tägliche Zahl an Opfern in diesen gut drei Monaten sogar noch die schlimmste Phase des Massenmords in Auschwitz-Birkenau. Im Frühjahr 1944 waren dort binnen acht Wochen mindestens 370.000, vielleicht aber auch 437.000 Menschen vor allem aus Ungarn vergast worden.

Im Schnitt wurden im Spätsommer 1942, als die Wehrmacht in Stalingrad einrückte und Hitlers Machtbereich seine größte Ausdehnung erreichte, pro Tag doppelt so viele Juden ermordet wie im Frühjahr 1944. Allerdings verteilten sich diese Verbrechen auf vier Haupt- und Dutzende Nebentatorte. Dennoch bleibt mit Stone festzuhalten: Ein Viertel aller Holocaustopfer starb in diesen nur hundert Tagen im Jahr 1942.

In seinem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Science Advances“ beschreibt Stone, wie er zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Denn neue Forschungen oder bislang unbekannte Fakten liegen seiner Studie nicht zugrunde. Tatsächlich hat vor dem israelischen Forscher noch niemand die im Prinzip bekannten Werte aufaddiert. Doch erst Stones Rechnung macht den entsetzlichen Höhepunkt des Holocaust anschaulich.

Der größte Teil des „Mordgeschäfts“ wurde in den drei Todesfabriken der „Aktion Reinhardt“ abgewickelt. Unter diesem Decknamen lief die technische Umsetzung des Völkermords vor allem an Polens Juden. Dazu hatte die SS seit Dezember 1941 drei reine Vernichtungslager bauen lassen, zuerst Belzec im äußersten Südosten des heutigen Polen, dann Sobibor 140 Kilometer weiter nördlich und schließlich Treblinka knapp hundert Kilometer nordöstlich von Warschau.

Diese drei Lager betrieb das Personal, das 1940/41 innerhalb des Deutschen Reiches den verharmlosend „Euthanasie“ genannten Krankenmord mit mehr als 70.000 Opfern durchgeführt hatte. Doch aufgrund von Protesten der Kirchen, besonders des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, stoppte Hitler im Sommer 1941 dieses Tötungsprogramm mit dem Decknamen „Aktion T4“.

Nun standen 92 erfahrene Massenmörder ohne Aufgabe da. Als der SS- und Polizeichef von Lublin, der österreichische Nationalsozialist Odilo Globocnik, um den 31. Oktober 1941 von SS-Chef Heinrich Himmler den Befehl erhielt, alle Juden im deutsch besetzten Zentralpolen, nun „Generalgouvernement“ genannt, umzubringen, griff er auf diese Leute zurück.

Der ehemalige Verwaltungsleiter verschiedener Euthanasieanstalten, Christian Wirth, baute als erster Kommandant das Mordlager Belzec auf und wurde danach „Inspekteur“ aller drei Mordstätten der „Aktion Reinhardt“. Mit dem Amtsantritt von Wirth am 1. August 1942 explodierte die Mordrate in allen drei Todesfabriken geradezu.

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Stone kommt auf verschiedenen Wegen zu der dokumentarischen Grundlage seines Aufsatzes. Zunächst hat er die Deportationszüge ausgewertet, die im Herbst 1942 nach Belzec, Sobibor und Treblinka fuhren. Insgesamt brachten in den untersuchten hundert Tagen mehr als 480 Züge der Deutschen Reichsbahn rund 1,1 Millionen Menschen aus 393 vor allem polnischen Städten und Gettos in die drei Mordstätten; zu mehr als 97 Prozent waren die Deportierten Juden (der Rest waren gleichfalls aus vermeintlich rassischen Gründen verfolgte Roma).

Geblieben sind von diesen Opfern nur ungeheure Mengen menschlicher Asche. Denn „selektiert“ wurde in den Lager der „Aktion Reinhardt“ nicht oder nur in ganz geringem Ausmaß – fast alle Deportierten wurden hingegen von SS-Leuten, vor allem aber von ukrainischen Hilfstruppen, den Trawniki, direkt in die mit Kohlenmonoxid aus Panzermotoren betriebenen Gaskammern gehetzt.

Eine zweite Grundlage für Stones Studie sind die „Meldungen aus den besetzten Ostgebieten“ der SS-Einsatzgruppen, die in den besetzten Teilen der Sowjetunion mit Massenerschießungen Juden (und angebliche Partisanen) umbrachten. Für den Zeitraum von August bis Oktober 1942 sind hier ziemlich genau 302.000 Morde dokumentiert. So gut wie alle Leichen, die zunächst nur verscharrt worden waren, wurden 1943/44 in der „Sonderaktion 1005“ wieder ausgegraben und auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt.

Schließlich nutzte Stone das erschreckend genaue „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945“, das die polnische Historikerin Danuta Czech (1922–2004) im Jahr 1989 veröffentlichte. Hier sind alle Zugänge in den verschiedenen Lagern des Komplexes Auschwitz im annektierten Ostoberschlesien verzeichnet; aus der Differenz von angekommenen und aufgenommenen Häftlingen kann man die Zahl der sofort ermordeten Menschen errechnen. Fast alle starben durch das Giftgas Zyklon B.

Geprüft hat Stone seine Ergebnisse unter anderem mithilfe des Korherr-Berichts. Unter diesem Namen ist eine Aufstellung des Chefstatistikers der SS bekannt. Himmler hatte seinem Untergebenen Richard Korherr Mitte Januar 1943 den Auftrag erteilt, einen statistischen Bericht über die „Endlösung der europäischen Judenfrage“ zu verfassen. Korherr lieferte handwerklich zuverlässige Arbeit ab und dokumentierte den Mord an mindestens 2,5 Millionen Menschen.

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In dem Dreivierteljahrhundert seither hat die historische Forschung allerdings weitere Dokumente beigebracht, die Korherrs Zahlen teilweise überholt erscheinen lassen. Mit Lewi Stones Aufsatz existiert nun eine neue, sorgfältig aufgearbeitete Statistik. Damit kann sich die Geschichtswissenschaft endlich vom Täterdokument Korherr-Bericht emanzipieren. Das ist vielleicht der wichtigste Gewinn.

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