Wenn es an die Disziplin geht, die Dinge bis zum Maximum zuzuspitzen, so hat dieser Autor in 2500 Jahren Literaturgeschichte kaum Konkurrenten. Die Erkenntnisse, die aus dieser Meisterschaft folgen, verströmen selten Vergnügen – aber genau das macht das Werk so einzigartig. Und hätte Oscar Wilde (1854–1900) ein wenig mehr nach dem gelebt, was er von sich gab, wäre ihm wohl genug erspart geblieben, um nicht als kaputte Hülle von dem ins Grab zu gehen, was einmal die Nonchalance in Person gewesen war.
Nehmen wir die Worte: „Die Erfahrung hat keinerlei ethischen Wert. Sie ist nur ein Name, den die Menschen ihren Irrtümern verleihen.“ Ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich über den Satz genauso gut ein Psychologie- wie ein Philosophieseminar abhalten ließe, füllte der Dichter höchstselbst diese Einsicht so sehr mit Leben, dass sie eine entscheidende Rolle beim Anfang seines Untergangs spielte.
Im Jahr 1895 hatte sich Wilde in London zu einer Erscheinung emporgearbeitet, der die Zeitgenossen mit einer Mischung von höchster Bewunderung und Abscheu begegneten. Der gebürtige Ire lief in Seidenstrümpfen bis zum Knie durch die Hauptstadt eines Imperiums, das vor Macht und Pracht beinahe zerbarst, dabei aber in Fragen der Sexualmoral so viel Freiheitsgeist verströmte wie die Karzer seiner Eliteinternate. Nun hatte es der Schriftsteller gewagt, in seinen Texten ein Sittengemälde in der Gesellschaft unter Queen Victoria zu zeichnen, das die Heuchelei der Zeit mit einer Brillanz sichtbar machte, wie es selbst kein Charles Dickens je vermocht hatte.
Den Gipfel hatte Wilde 1891 mit dem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ erklommen. Der Titelheld verwandelt sein Leben in ein makabres Kunstwerk, indem er seine unvergängliche Schönheit ausschließlich dafür einsetzt, Mitmenschen auf jede denkbare Art zu missbrauchen. Wer so etwas schrieb, mit dem konnte selbstredend nach Ansicht des braven Teils seiner Mitbürger etwas nicht stimmen. Und so stürzte sich die Gesellschaft voller Wonne auf die Gerüchte, dass der Dichter, obwohl mit einer Frau verheiratet, recht häufig mit sehr ansehnlichen jungen Männern zu sehen war.
Besonders genau war der Marquis von Queensbury über diese Geschichten informiert, unterhielt Wilde doch auf eine Weise ein Verhältnis zu seinem Sohn Lord Douglas, dass es selbst mit der allergrößten Mühe nicht zu übersehen gewesen wäre. Um die Dinge vom Schlechten ins Katastrophale zu wenden, galt Homosexualität – im damaligen Sprachgebrauch auch Sodomie genannt – als Krankheit; wirklich erstaunen kann das nicht in einem Land, in dem die Tischdecken bis zum Boden zu reichen hatten, damit niemand beim Anblick der Beine auf blöde Gedanken kam.
Und so entschloss sich der Marquis, am 18. Februar 1895 im Club des Dichters eine Karte „für Oscar Wilde, den posierenden Sodomiten“ zu hinterlassen. Ohne jeden Zweifel war das eine Provokation – und Wilde ging darauf ein; entgegen dem Rat seiner Freunde verklagte er den Adligen wegen Verleumdung.
Was ihn trotz der klaren Indizienlage gegen ihn dazu trieb? Fest steht, dass der Schriftsteller im „Dorian Gray“ die Figur des Lord Henry Wotton nach dem Marquis gestaltet hatte – er ist der amoralische Einflüsterer des schönen Jünglings, jeder Satz ein Aphorismus, der Gray neues Unheil auslösen lässt. Vielleicht rechnete Wilde damit, dass ein so verkommener Mann vor einem englischen Gericht dann doch nicht bestehen könnte.
Hinzu mag ein unüberwindbarer Charakterzug gekommen sein: Er könne allem widerstehen, nur nicht der Versuchung, hatte der Dichter zu Papier gebracht. Die Verhandlung in ein Theaterstück zu verwandeln und die Affären als Musen für große Kunst hinzustellen, war sicher eine riesige Versuchung für Oscar Wilde: Wenig versprach mehr Aufmerksamkeit.
Doch der Dichter hatte sich verkalkuliert. Vor allem Edward Carson setzte ihm zu, der Anwalt der Gegenpartei. Als er Wilde ins Kreuzverhör nahm und ihm seine zahlreichen Verhältnisse mit meist jungen Männern aus der Unterschicht nachwies, brachen die rhetorischen Gebäude des Schriftstellers zusammen. Zwei Jahre Gefängnis und Zwangsarbeit lautete das Urteil; eine Zeit, die weder Wildes Seele noch sein Körper verkraftete. Zyniker – für den Dichter Menschen, die von allem den Preis und von nichts den Wert kennen – Zyniker also trösteten ihn mit den Worten, er habe durch seinen Aufenthalt immerhin das Gefängnis in Reading zum berühmtesten Knast der ganzen Insel gemacht.
Oscar Wilde starb am 30. November 1900 in Paris. Menschen, die heute nur den überlegenen Stilisten in ihm sehen, behaupten gern, seine letzten Worte hätten gelautet: „Okay, entweder geht diese grässliche Tapete an der Wand oder ich.“ Das aber ist nicht belegt. Viel eher ereilte ihn wohl der ganz banale Tod eines Mannes, dessen Leben zeigt, dass Erfahrung und Irrtum oft genug dasselbe sind.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2022 veröffentlicht.