Faul, fachlich inkompetent und an den allermeisten Fragen, mit denen er sich in der selbst angestrebten Regierungsfunktion beschäftigen musste, eigentlich desinteressiert: Adolf Hitler war in mehrerlei Hinsicht als Politiker denkbar ungeeignet.
Trotzdem gab es niemals in der deutschen Geschichte einen Menschen, der in vergleichbar kurzer Zeit derartig viel verändert hat, allerdings nahezu ausschließlich zum Negativen. Das lag vor allem an zwei Eigenschaften: seinem Charisma (ein wertfreier, kein positiv besetzter Begriff) und seinem rhetorischen Talent.
Seit Konrad Heiden 1936 bis gegenwärtig zuletzt Wolfgang Schieder 2023 haben sich weit mehr als hundert Publizisten und Historiker bemüht, das Rätsel von Hitlers Wirkung auf Menschen im kleinen Kreis in ihren seriösen Biografien zu ergründen, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Dagegen spielte die Rolle von Hitlers Rhetorik eine stets untergeordnete Rolle.
Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens die ewige Wiederholung immer derselben Ausschnitte von „Führer“-Reden in TV-Dokumentationen, die meistens einen schreienden, vor den Mikrofonen vor sich hin hampelnden Redner zeigen, der auf heutige Zuschauer einfach nur abstrus wirkt. Diese Bilder, meist aus offiziellen Aufnahmen für die Wochenschau, sind zwar zweifellos echt – trotzdem verzeichnen sie die Realität. Denn den allergrößten Teil seiner Reden sprach Hitler eher leise und in moderatem Tonfall; das Schreien, das es oft, aber nicht bei jedem Auftritt gab, war gerade nicht typisch.
Der zweite Grund ist überraschender: Es gibt bis heute keine wissenschaftliche Edition der Hitler-Reden aus der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zu seinem Selbstmord im Führerbunker am 30. April 1945. Trotz der unübersehbar riesigen Menge an Quellenveröffentlichungen und vor allem an Literatur zu nahezu allen Aspekten des Dritten Reiches, seiner Vor- und seiner Nachgeschichte, müssen Wissenschaftler (und auch WELTGeschichte) immer noch auf die Abdrucke dieser Reden in zeitgenössischen Zeitungen zurückgreifen sowie (und vor allem) auf eine bekanntermaßen unzuverlässige, von einem Privatmann angelegte Sammlung von Auszügen aus Hitler-Reden.
Diese bisherige Zurückhaltung der Fachwissenschaft überrascht auf den ersten Blick. Doch sie hatte durchaus Methode: Auch die erste wissenschaftliche Edition der Hetzschrift „Mein Kampf“ erschien erst 2016, nachdem der Freistaat Bayern als formaler Inhaber der Urheberrechte Hitlers jahrzehntelang blockiert hatte.
So blieben Wissenschaftler angewiesen auf die Anfang der 1960er-Jahre erstmals publizierte Chronik „Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945“ des Würzburger Archivars Max Domarus (1911–1992). Schon als Student hatte er 1932 begonnen, öffentliche Äußerungen Hitlers zu sammeln. Er wollte die Wirkung beobachten, die von seinen Reden ausging. Nach 1945 ergänzte er das vorwiegend aus dem „Völkischen Beobachter“ oder anderen Zeitungen stammende Material und fügte den „Kommentar eines Zeitgenossen“ hinzu.
Das Ergebnis, 2323 eng bedruckte Seiten in zwei, manchmal auch vier Bänden, erschien erstmals 1962/63, überarbeitet 1973 und bis 1988 in einer Auflage von insgesamt mehr als 20.000 Stück. Auch eine englische Übersetzung brachte Domarus im Selbstverlag heraus.
Doch die vielfach willkürlichen Kürzungen (Domaus ließ große Teile der Reden weg, wenn sie ihm redundant vorkamen) und die verbindenden Texte, die aus seinem Buch eine Art Chronik machte, schwächen die Verlässlichkeit erheblich. Zudem machte Domarus auch zahlreiche Fehler und saß ohne Archivrecherchen den Falschdarstellungen auf, die im Dritten Reich verbreitet worden waren.
Der Fälscher der „Hitler-Tagebücher“ Konrad Kujau stützte sich bei seiner Fleißarbeit an 60 handgeschriebenen Kladden wesentlich auf die Chronik, was dem Bundesarchiv 1983 die Entlarvung der Fälschung auch inhaltlich (neben der materialwissenschaftlichen Überprüfung) ermöglichte: „Wenn bei Domarus für einige Tage nichts dokumentiert ist“, bemerkte der damalige Präsident des Bundesarchivs Hans Booms etwas hämisch, „dann geht der angebliche Führer abends ohne Eintragung ins Bett.“
Domarus erstattete Strafanzeige gegen Kujau – wegen „Missbrauchs“ seiner Werke. Der Fälscher habe mitunter ganze Passagen wörtlich abgeschrieben. Kujau verwahrte sich dagegen und behauptete, Domarus und er hätten lediglich aus denselben Quellen geschöpft.
Eine der vielen offenen Fragen, die am Fall „Hitler-Tagebücher“ noch zu prüfen sind. Was bald möglich werden dürfte, da das Privatarchiv des früheren „Stern“-Reporters und „Entdeckers“ Gerd Heidemann im Sommer 2023 ins Eigentum der renommierten Hoover Institution in Stanford (US-Bundesstaat Kalifornien) übergangen ist und dort gegenwärtig digitalisiert wird. Gleichzeitig digitalisiert das Bundesarchiv Kujaus handschriftliche „Originale“.
Jetzt haben das Institut für Zeitgeschichte München−Berlin (IfZ) und die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv zusammen mit weiteren Forschungseinrichtungen ein gemeinsames Projekt gestartet, das die Domarus-Chronik ersetzen soll. Erstmals wollen die Forscher alle Reden Hitlers aus den Jahren 1933 bis 1945 identifizieren, analysieren und kritisch edieren. Geplant ist, eine gedruckte Fassung vor allem für Bibliotheken und eine frei zugängliche Onlineversion anzubieten, also ähnlich wie bei der Edition von „Mein Kampf“, die 2016 als Zweibänder erschien, mit 13 Auflagen zum Überraschungserfolg auf dem Buchmarkt wurde und seit 2022 kostenlos im Internet verfügbar ist.
Eingebunden werden in die Online-Fassung sollen alle verfügbaren Tonaufzeichnungen – womit ein wesentlicher Fortschritt gegenüber der reinen Textfassung verbunden ist. Auf diese Weise wird deutlich werden, wie Hitler tatsächlich gesprochen hat.
Bis etwa 2027 soll die möglichst komplette Sammlung vollendet sein – was etwas erstaunlich ist, denn am IfZ ist schon seit vielen Jahren für eine geplante Fortsetzung der Edition „Hitler. Reden–Schriften–Anordnungen 1925 bis 1933“ (erschienen 1992 bis 2003) gesammelt worden, die jetzt durch das neue Editionsprojekt ersetzt werden wird.
Vier weitere Jahre wird die Veröffentlichung der Textversion der Reden dauernd, ergänzt um Einführungen zum Wissensstand und den zeitgeschichtlichen Kontext: „Die Kommentierung wird ausführlicher als in ,Hitler. Reden–Schriften–Anordnungen‘ werden, aber nicht ganz so intensiv wie zu ,Mein Kampf‘“, sagte Magnus Brechtken gegenüber WELT, der stellvertretende IfZ-Direktor und Projektleiter. Er sieht bei den Hitler-Reden 193 bis 1945 „einen ausführlichen Aufklärungsbedarf“.
Wie die Edition von „Mein Kampf“ wird auch dieses Projekt eine Lücke schließen und weiteren Forschungen eine seriöse Grundlage geben. Erstaunlich ist eigentlich nur, dass es so lange gedauert hat. Zum hundertsten Jahrestag der Machtübernahme der Nationalsozialisten 2033 wird das Vorhaben spätestens vollständig vorliegen.