In den Tagen „danach“ war das das Erschrecken groß: „Verbissen und barsch sind überall Scharen von Volkspolizisten am Werk, die Löcher im Eisernen Vorhang bei Helmstedt zu stopfen, durch die an manchen Tagen tausend illegale Grenzgänger schlüpften“, berichtete Josef Schmidt, ein Reporter des Axel Springer Verlages, nach Hamburg. Er war Ende Mai 1952 rund 70 Kilometer entlang der Zonengrenze gefahren, von Helmstedt-Vorsfelde im Norden bis Söllingen im Süden. Mit eigenen Augen wollte er sehen, wie die DDR ihre Ankündigung umsetzte, die innerdeutsche Grenze (damals noch meist Interzonengrenze genannt) zu sperren.
„Stacheldraht, spanische Reiter und Tellerminen habe ich nirgends gesehen“, berichtete Schmidt. Trotzdem war das, was hier an der Linie zwischen dem westdeutschen Bundesland Niedersachsen in der britischen Zone und dem schon bald abgeschafften Land Sachsen-Anhalt in der Sowjetischen Besatzungszone geschah, der „Anfang einer toten Grenze, wie sie von Ungarn und der Tschechoslowakei her mit Wachttürmen und Minenfeldern bekannt ist“.
Von Hof in Oberfranken bis nach Lübeck an der Ostsee zog das SED-Regime auf seiner Seite der Interzonengrenze ein „Sperrgebiet“ von fünf Kilometern Breite, in dem die Bewegungsfreiheit der Bewohner weitgehend eingeschränkt wurde. Nur wer einen Stempel auf der letzten Seite seiner Kennkarte bekam, durfte sich fortan hier aufhalten. Die letzten 500 Meter dieses Sperrgebietes hin zur Bundesrepublik wurden zum „Warngebiet“ mit verschärften Bedingungen erklärt: Selbst zugelassene Bewohner der Fünf-Kilometer-Zone durften ab sofort das Warngebiet nur noch mit besonderer Genehmigung betreten.
Wer außerhalb lebte, konnte ab sofort nur mehr mit jeweils eigens erteilter Genehmigung der DDR-„Volkspolizei“ ins Sperrgebiet fahren. „Den Abschluss gegen Westen und damit die eigentliche Grenze bildet der vom Volksmund so getaufte ,Todesstreifen’“, berichtete Josef Schmidt weiter, „ein zehn bis zwölf Meter breites Band, das Hunderte von Traktoren mit Pflügen und Eggen gezogen haben.“ Der Reporter teilte seinen Redaktionen mit: „Die Grenze ist so für jedermann sichtbar geworden. Wer diesen Todesstreifen betritt, kann von der Grenzpolizei ohne Warnung erschossen werden.“
Am Montag, dem 26. Mai 1952, hatte die DDR-Regierung unter Ministerpräsident Otto Grotewohl in einer Sondersitzung die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“ beschlossen, in der es hieß: „In Befolgung ihrer Kriegspolitik haben die Bonner Regierung und die westlichen Besatzungsmächte an der Demarkationslinie einen strengen Grenz- und Zolldienst eingeführt, um sich von der DDR abzugrenzen und dadurch die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.“
Daran stimmte zwar kein Wort, denn auf westlicher Seite der Linie zwischen Bundesrepublik und DDR hatte sich in den vorangegangenen Monaten rein gar nichts geändert. Auch nicht durch die Unterschrift der Außenminister Anthony Eden aus Großbritannien, Robert Schuman aus Frankreich und Dean Acheson aus den USA sowie des Bundeskanzlers Konrad Adenauer unter den Deutschlandvertrag am 26. Mai 1952 vormittags gegen elf Uhr.
Trotzdem behauptete Grotewohl, einer der beiden nominellen SED-Vorsitzenden: „Das Fehlen eines entsprechenden Schutzes der Demarkationslinie seitens der DDR wird von den Westmächten dazu ausgenutzt, um in immer größerem Umfange Spione, Diversanten, Terroristen und Schmuggler über die Demarkationslinie zu schleusen.“ So begründete das Regime die faktische Sperrung der Grenze, deren wirklicher Grund natürlich die Behinderung weiterer Fluchten über die bis dahin „grüne“ Grenze war.
Kaum war die Verordnung formal erlassen, begann ihre offenbar lange vorbereitete Umsetzung: Gegen 17 Uhr besetzte die Volkspolizei die Anlagen der Braunschweigischen Kohlenbergwerks-Gesellschaft bei Hötensleben – einer nun westdeutschen Firma, die aber unter anderem den Tagebau Wulfersdorf und das Kraftwerk Harbke auf nun ostdeutschem Gebiet betrieb. Die Arbeiter wurden entlassen und den Westdeutschen unter ihnen die Passierscheine abgenommen. „Die Bevölkerung sah murrend zu“, gab Schmidt den Bericht einer Augenzeugin wieder.
Ein Kommissar der Volkspolizei erklärte, die Ausweise seien den Arbeitern abgenommen worden, weil der westdeutsche Zollgrenzdienst die aus der Ostzone kommenden Arbeiter misshandele und schikaniere. „Ein Sprecher der Arbeiter forderte, es möge sich jeder melden, der auch nur einmal vom Westzoll schikaniert worden sei“, hieß es in Schmidts Bericht weiter: „Es meldete sich keiner.“
Am Dienstag, dem 27. Mai 1952, wurde in den nun grenznahen Dörfern die Polizeiverordnung über das Sperrgebiet bekannt gegeben. Die hier ansässige Bevölkerung bekam Stempel in die Kennkarten, nebenbei wurden alle hier wohnenden Menschen neu registriert. Zwangsläufig mussten sich dabei alle im Sperrgebiet befindlichen Westdeutschen melden. Sie wurden höflich, aber ohne viel Federlesens von der Volkspolizei über die Grenze geleitet. Die in Hötensleben wohnende Schwester einer westdeutschen Frau weinte beim Abschied: „Wer weiß, wann wir uns wiedersehen?“
Östlich des fünf Kilometer breiten Grenzgebietes wurden neue Schlagbäume errichtet, an denen „die Russen“ stünden, wie eine westdeutsche Frau nach ihrer erzwungenen Rückkehr dem Reporter erzählte. Im Sperrgebiet galt ab sofort eine Ausgangssperre von 22 bis sechs Uhr morgens, um Fluchten im Schutze der Dunkelheit weiter zu erschweren.
Die mit großem logistischem Aufwand durchgeführte Sperrung der Grenze schreckte tatsächlich viele Fluchtwillige ab. Sie nahmen fortan den Umweg über Berlin, denn in der Vier-Mächte-Stadt blieb die innerstädtische Sektorengrenze des besonderen Status’ wegen offen. Dafür wurde nun die gesamte Außenlinie zwischen den drei westlichen Sektoren und dem Land Brandenburg versperrt. Noch hatten die Grenzanlagen nicht die Massivität wie ab dem 13. August 1961, sie bestanden vielmehr oft aus Gräben mit einem einzelnen Maschendraht, manchmal auch nur aus einem Jägerzaun. Aber scharf geschossen wurde hier ebenfalls bald.
Die Absperrung der innerdeutschen Grenze und des „Außenrings“ um West-Berlin war nur der Auftakt für noch schärfere Maßnahmen. Wenige Tage später nämlich begannen Stasi-Leute mit Unterstützung der DDR-Grenzpolizei, „feindliche, verdächtige und kriminelle Elemente“ aus dem fünf Kilometer tiefen Sperrgebiet zu „entfernen“, indem „man diese in die Innenbezirke der DDR umsiedelt“. Offiziell hieß diese Maßnahme „Aktion Grenze“. Intern jedoch trug sie einen anderen, aus Sicht der Stasi und der SED ehrlicheren Namen: „Aktion Ungeziefer“.
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