Handgreiflich zur Sache ging es im Bundestag in mehr als 70 Jahren nur ein einziges Mal: Am 10. März 1950 hatte der wegen antisemitischer Äußerungen ausgeschlossene und angeklagte Abgeordnete Wolfgang Hedler im Plenarsaal Platz genommen. Das Parlamentsprotokoll hielt fest: „Erregte Zurufe links: Raus mit Hedler!“
Mit einiger Mühe und seiner Glocke verschaffte sich Bundestagspräsident Erich Köhler Gehör: „Es kann dem Hause nicht zugemutet werden, in Anwesenheit eines Mannes zu verhandeln, der noch nicht Gelegenheit gehabt hat, sich restlos von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu reinigen.“ Dann forderte er Hedler auf, den Saal zu verlassen. Doch das ehemalige Mitglied der rechtsgerichteten Deutschen Partei weigerte sich. Daraufhin schloss Köhler ihn von der laufenden Sitzung aus.
Allerdings blieb Hedler in einem Nebenraum des Bundeshauses, und als das einige Abgeordnete der SPD, darunter der Ex-Kommunist Herbert Wehner, erfuhren, warfen sie ihn mit körperlicher Gewalt hinaus. WELT schrieb damals, Hedler sei mit Fausthieben und Fußtritten attackiert worden. Jedenfalls stürzte er und verletzte sich, weshalb er später einen Schadensersatzprozess gegen Wehner und einen weiteren SPD-Abgeordneten anstrengte, den er gewann.
WELT kommentierte den Fall: „Jene, die es für zweckmäßig hielten, Hedler zu vermöbeln, hätten wissen müssen, dass sie durch ihr Handeln dem Prestige des Bundesparlaments in höchstem Maße Abbruch tun.“ Der wie seinerzeit üblich nicht namentlich gezeichnete Meinungsbeitrag warnte: „Was am Freitag in den Wandelgängen des Bundestages geschah, war ohne Würde und deshalb schädlich für den Bundestag und für die Bundesrepublik.“
Erstaunlich ist allerdings weniger dieser Einzelfall und mehr, dass die natürlich inakzeptable Gewaltanwendung eine absolute Ausnahme blieb. Denn zumindest in der Anfangsphase des Parlaments der gerade gegründeten Bundesrepublik „begegneten sich Remigranten, Mitläufer und Parteigenossen“ im Plenarsaal wieder, schreibt der Historiker Andreas Schulz in seinem Aufsatz „Braune Parlamentarier? Zur NS-Vergangenheit des Deutschen Bundestages“. Der Text ist gerade in einem Sammelband zum Umgang mit den zwölf Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ nach 1945 erschienen, den Magnus Brechtken, Vizedirektor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, herausgeben hat.
Seit dem Auftakt mit der Studie „Das Amt und die Vergangenheit“ (2011) über die Verstrickungen späterer bundesdeutscher Diplomaten in die NS-Verbrechen 2011 haben die meisten Ministerien und einige weitere Bundesbehörden Historikerkommission beauftragt, personelle und andere Kontinuitäten zum Dritten Reich zu untersuchen und zu bewerten, inwieweit nationalsozialistischer Ungeist in die Bundesrepublik weitergewirkt hat. Die Ergebnisse waren meist differenziert und spannend, sie zeigten Probleme wie die im Bundesjustizministerium erdachte informelle Amnestie für NS-Schreibtisch-Täter wie auch trotz starker Belastung des Personals seriöse Arbeit etwa beim Bundeskriminalamt.
Aktuell laufen noch entsprechende Studien zum Bundeskanzler- und zum Bundespräsidialamt, ferner zum Bundesverfassungsgericht. Nur eine zentrale Institution hat so eine Studie noch nicht in Auftrag gegeben: der Bundestag – obwohl im Koalitionsvertrag der letzten Merkel-Regierung der Satz stand: „Auch die fortgesetzte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien, Bundesbehörden sowie des Deutschen Bundestags wird weiter unterstützt.“ Liegengeblieben, wie so vieles.
Hier setzt Schulz, der hauptberuflich als Generalsekretär der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien arbeitet, an – und umreißt, welche Fragen so eine Untersuchung wohl behandeln müsste. „Ein Forschungsvorhaben zur Vergangenheitspolitik des Bundestages darf sich nicht mit dem Nachweis der braunen Vergangenheit einzelner Mandatsträger zufriedengeben“, hält er völlig zu Recht fest.
Das schiere Feststellen von NSDAP-Mitgliedschaften bringt wenig bis gar nicht, wie die kontroverse Debatte um „Das Amt“ gezeigt hat. Deshalb schlägt der Historiker, der auch an Goethe-Universität Frankfurt lehrt, einen komplexeren Auftrag vor: „Im Zentrum sollte die Frage stehen, wie sich die heterogenen Vergangenheiten der Abgeordneten auf die parlamentarische Praxis auswirkten. Wie entwickelten sich aus der Begegnung der Extreme eine gemeinsame Sprache und politische Ziele? Wie wurde ein Modus der Diskretion im Umgang mit der NS- Vergangenheit gefunden?“
Konkret gesagt: Wie ging etwa der Justizpolitiker und zeitweilige FDP-Vorsitzernde Thomas Dehler, der wegen seiner jüdischen Frau in der NS-Zeit diskriminiert worden war und 1938 zeitweise in Haft saß, mit seinem Fraktionskollegen Ernst Achenbach um? Denn der war zumindest 1942/43 aktiv an der Deportation französischer Juden beteiligt gewesen.
Fast die gesamten 1950er-Jahre, nach der unter der Ägidie der westlichen Besatzungsmächte vorangetriebenen juristischen Aufarbeitung und Entnazifizierung der Jahre 1945 bis 1949, prägte die „Schlussstrich-Mentalität“. Zwar war die allerjüngste Vergangenheit oft Thema in der Öffentlichkeit, doch meistens im Sinne der Deutschen als Opfer. Zumindest was die Mehrheitsgesellschaft anging, war die Frage nach Verstrickungen, ja Schuld unpopulär. Und das galt natürlich auch in der Volksvertretung, eben dem Bundestag.
„Der pragmatische Schweigekonsens beruhte auf dem Argument, dass zu viel Vergangenheit bzw. das öffentliche Reden darüber dem parlamentarischen Neuanfang hinderlich gewesen wäre“, stellt Schulz fest. Aufzuklären wäre etwa, was einen Herbert Wehner (der als ehemaliger Funktionär der stalinistischen KPD selbst in ein Unrechtsregime verstrickt gewesen war) dazu brachte, gegen Hedler handgreiflich zu werden. Während er gleichzeitig mit vielen anderen Parlamentariern auch der eigenen Fraktion, aber genauso der CDU/CSU und der FDP problemlos zusammenarbeitete, die 1933 bis 1945 in verschiedenen Funktionen, und sei es als Soldaten der Wehrmacht, an NS-Untaten zumindest indirekt beteiligt gewesen waren.
Voraussetzung dafür, so Schulz, ist eine biografische Datenbank, die Informationen zur genauen Tätigkeit aller 1475 Bundestagsabgeordneten umfasst, die vor 1928 geboren sind. Denn eine solche Auswertung darf eben nicht stehenbleiben bei Mitgliedschaften in NS-Organisationen; viel wichtiger ist, die tatsächliche Tätigkeit in der Hitler-Zeit festzustellen. Die existierenden Angaben etwa in biografischen Handbüchern zeichnen sich, das hat der Parlamentshistoriker schon bei einer kursorischen Durchsicht festgestellt, eher durch Vertuschen denn durch Klarheit aus.
Wolfgang Hedler übrigens wurde 1951 in zweiter Instanz in Kiel wegen öffentlicher Beleidigung von Widerstandskämpfern gegen Hitler, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, nämlich in Gaskammern ermordeter Juden und übler Nachrede zu neun Monaten Haft verurteilt. Entgegen seinem Bundestagspräsident Köhler gegebenen „Ehrenwort“ war Hedler während einer Pause der Verhandlung geflohen, wurde aber festgenommen und kam in Haft. Mit einem Hungerstreik protestierte er, aber ohne Erfolg. Er musste sechs Monate absitzen, blieb aber bis 1953 Bundestagsabgeordneter – das Mandat konnte ihm nicht aberkannt werden.
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