Gerade zwölf Minuten dauerte der Flug. Dann, exakt um 20:31:12 Uhr Ostküstenzeit am 17. Juli 1996, explodierte die Boeing 747-131 der US-Fluggesellschaft Trans World Airlines auf dem Flug von New York nach Paris in der Luft, etwa zehn Kilometer südlich des Westhampton Beach auf Long Island. Alle 230 Menschen an Bord starben, 212 Passagiere und 18 Besatzungsmitglieder, die Trümmer des Jumbo-Jets stürzten ins Meer. Gemessen an der Zahl der Opfer stand dieser Absturz zwar nur an 14. Stelle der bis dahin schlimmsten Unglücke der Zivilluftfahrt. Doch viel bedeutsamer war TWA-Flug 800, weil gerade diese Katastrophe zur gewissermaßen zur Mutter der modernen Verschwörungstheorien wurde.
Schon immer gibt es Menschen, die hinter irgendwie erschütternden Ereignissen vermeintliche „Hintermänner“ und angeblich „geheime Machenschaften“ ausmachen wollen. Psychologisch ist das leicht erklärbar: Es fällt vielfach leichter, einschneidende Vorfälle zu akzeptieren, wenn man dafür jemanden verantwortlich machen kann – entweder überhaupt irgendjemanden (bei Unfällen) oder (bei fraglos von Menschen verursachten Vorfällen) politische Gegner oder „die üblichen Verdächtigen“.
Neu an den Reaktionen auf den Absturz von TWA-Flug 800 war allerdings, wie sie sich verbreiteten und steigerten. Mitte 1996 wurden von rund zehn Millionen Rechnern Inhalte ins World Wide Web gestellt, Dutzende Millionen Menschen hatten über einen der damaligen Provider wie AOL oder Compu-Serve Zugang zu Chatgruppen und ähnlichen Netzwerken; etwa jeder zwölfte US-Amerikaner gehörte dazu. Diese technische Entwicklung gab dem altbekannten Phänomen Verschwörungstheorie eine ganz neue Dynamik.
Während die Untersuchungen des Absturzes durch die zuständige US-Verkehrsunfallbehörde National Transportation Safety Board (NTSB) gerade erst angelaufen waren, meldeten sich schon oft selbst ernannte Experten mit Erklärungen zu Wort. So sagte der ehemalige CIA-Mitarbeiter Larry Johnson, der nach seinem Ausscheiden aus dem Regierungsdienst gelegentlich als Terrorismus-Experte in Talkshows wie „Larry King Live“ auftrat, schon weniger als zwei Stunden nach der Detonation: „Hier war ohne Zweifel eine Bombe an Bord. Solche katastrophalen Explosionen in der Luft gibt es in Verkehrsflugzeugen nicht ohne Sprengstoff an Bord.“
Auch Michael Barr, immerhin tatsächlich Flug-Experte, zeigt sich am 18. Juli 1996 überzeugt: „Flugzeuge explodieren einfach nicht auf diese Weise.“ Das äußerte er allerdings noch vor Bergung der ersten Trümmerteile, also freihändig. Zeitgleich berichtete der US-Fernsehsender ABC über Gerüchte, kurz vor der Explosion sei eine auf den Jumbo-Jet zufliegende Rakete auf den Radarschirmen zu sehen gewesen.
Augenzeugen berichteten, dass sie die Lichtspur einer aufsteigenden Rakete gesehen hätten. Das NTSB konnte in einer Simulation zeigen, dass dies vielmehr die Spur des nach der ersten Explosion kurzzeitig steigenden hinteren Teils der 747 selbst gewesen war. In Chatgruppen und auf Dutzenden WWW-Seiten wurde teilweise erregt darüber und viele weitere Details diskutiert und spekuliert.
Militärexperten wunderten sich allerdings über den ABC-Bericht, denn einerseits fand sich auf den aufgezeichnete Radardaten keine Spur einer Rakete. Andererseits explodierte TWA-Flug 800 mehr als zehn Kilometer von der nächsten Küste entfernt in einer Höhe von 4600 Metern. Die Katastrophe geschah damit deutlich außerhalb der Reichweite schulter-gestützter Luftabwehrraketen wie der amerikanischen Stinger oder der russischen Modelle SA-7 und SA-14.
Falls eine Rakete eingesetzt worden sein sollte, kämen also ausschließlich vom Militär verwendete größere Typen infrage, die von Kampfjets oder Kriegsschiffen abgeschossen werden konnten. Unnötig zu sagen, dass nachweislich weder ein solcher Jet noch ein Marineschiff in der Nähe des Absturzes gewesen waren.
Trotzdem leitete der Justizminister der USA umgehend neben dem technisch orientierten NTSB-Verfahren eine strafrechtliche Ermittlung des FBI ein. Innerhalb der kommenden Monate konnten die sterblichen Überreste von allen 230 Opfern und mehr als 95 Prozent der Flugzeugtrümmer geborgen werden.
Aus der Verteilung der Trümmer auf dem Meeresgrund konnten klare Erkenntnisse gewonnen werden. Am stärksten zerstört war der Rumpfteil unmittelbar vor dem Ansatz der Tragflächen – er wurde von einer Explosion aus dem Inneren regelrecht zerrissen. Direkt danach stürzte die Spitze des Jumbos mit dem Cockpit ins Meer, während der hintere Teil mit Tragflächen und Triebwerken, drei Fünfteln des Rumpfes und dem Leitwerk von wenige Sekunden weiterflog und erst dann aufs Wasser trudelte.
Angesichts des Schadensbildes konnte eine Explosion außerhalb des Rumpfes vollkommen ausgeschlossen werden. Was aber löste die Detonation im Rumpf aus? Die Bombe eines Terroristen oder Kriminellen, wie sie seit 1933 mindestens 62-mal an Bord von fliegenden Passagiermaschinen gezündet worden war?
Tatsächlich fanden sich an drei Materialproben von drei verschiedenen Stellen des geborgenen Flugzeugwracks, einem Stück Stoff und zwei Teilen einer Bodenplatte der Passagierkabine, chemische Reste, die auch bei Sprengstoffen vorkommen. Einmal Spuren von Cyclotrimethylentrinitramin, einmal von Nitroglycerin und einmal eine Mischung aus Cyclotrimethylentrinitramin und Pentaerythritoltetranitrat. Das feuerte die Spekulationen über eine Bombe an Bord von TWA-Flug 800 an. Doch der Hersteller der Passagiersitze teilte mit, dass die Substanzen in kleinen Mengen im verwendeten Klebstoff vorhanden waren; Untersuchungen in einem Labor der Nasa bestätigten das.
Schließlich kam das NTSB zu einem eindeutigen Ergebnis, das auch vom FBI bestätigt wurde: Im vordersten Segment des Rumpftanks hatte sich aus knapp 200 Litern Kerosin und Luft ein zündfähiges Gemisch gebildet. Dieser Tank war nicht gefüllt worden, weil der Flug nach Paris problemlos mit den Flügeltanks absolviert werden konnte; je mehr Treibstoff über den berechneten Bedarf und eine Sicherheitsreserve hinaus die Piloten aber tankten, desto schwerer wurde das Flugzeug, was wiederum mehr Treibstoff verbrauchte.
Jedoch gab es gerade an diesem Tank des schon 25 Jahre alten Flugzeugs mit der Rumpfnummer N93119 ein aufgescheuertes Kabel des Kraftstoffanzeigesystems, das Spuren eines Kurzschlusses aufwies. Dazu passte, dass der Kapitän des TWA-Jets laut Voice-Recorder etwa zweieinhalb Minuten vor der Detonation sagte, die Tankanzeige zeige „verrückte Werte“ (im Original: „crazy fuel flow“).
Das NTSB stellte maßstabsgerecht diese Ausgangslage nach – und hielt die dokumentierten Zerstörungen so für zweifellos erklärbar. Doch dieses im Jahr 2000 verkündete Untersuchungsergebnis fand viel Widerspruch, abermals vor allem im Internet. 2006 und erneut 2013 schafften es Zweifler mit Spekulationen erneut aus dem Internet in die seriösen Medien, doch beides Mal kam das NTSB zum Schluss, es lägen keine Indizien vor, die dem 425 Seiten starken Untersuchungsbericht widersprächen. Seit Anfang 2021 wird jedes geborgene Trümmerstück per 3D-Scanner digitalisiert und anschließend vernichtet, denn der gemietete Hangar mit den Rumpfresten von TWA-Flug 800 soll nach 25 Jahren wieder freigegeben werden.
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