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Geschichte Sebastian Haffners Memoiren

Mit Gewehren schuf das NS-Regime sich seine Kameraden

Im Jahr 2000 erschien Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“. Weil es fesselnd die Erosion der Demokratie zwischen 1914 und 1933 beschrieb, rief das Buch ein einzigartiges Echo hervor. Eine erneute Lektüre.
Textchef ICON / Welt am Sonntag
Kombo Sebastian Haffner Kombo Sebastian Haffner
Um sein Assessor-Examen zu machen, wurde Sebastian Haffner in ein Lager geschickt. Dort lernte er die Tricks der Nazis kennen
Quelle: Galerie Bilderwelt/Getty Images; United Archives via Getty Images

Der jüdische Arzt stand an diesem 1. April 1933 kurz vor dem familiären Ruin. Sein erster Sohn musste Deutschland verlassen, sein zweiter lag mit einer Blinddarmentzündung im Bett – doch niemand in Berlin wollte ihn im Krankenhaus operieren. Es war der Tag, an dem die Nazis erstmals zum Boykott der Juden aufgerufen hatten. In dieser Situation machte sich der Arzt gegenüber einem Freund seines Erstgeborenen Luft: Der Mann war in sein Haus gekommen, um dem Sohn beim Aufbruch zu helfen, aber weil er kein Jude war, landete die Enttäuschung des Vaters bei ihm.

Glaube man den Nazis, sagte der Arzt, so verbreiteten die Juden im Ausland Gräuelpropaganda über Deutschland. Ob es wirklich einen Deutschen gebe, der meine, dass die Juden dafür dumm genug seien – gerade jetzt, da die Antisemiten in Deutschland an der Macht seien? Wer diese Szene liest, den wird das Entsetzen darüber packen, dass diese Frage nicht rhetorisch war. Und erkennen, dass, wer wollte, schon 1933 ein Bild davon gewinnen konnte, dass die Nationalsozialisten gewillt waren, den Juden brutal zu schaden.

LITERARISCHES COLLOQUIUM / Publizist und Historiker SEBASTIAN HAFFNER, Sendung im ZDF, Folge 1, Mai 1972. (Photo by kpa/United Archives via Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Brillant und kontrovers: Sebastian Haffner (1907–1999) arbeitete auch für WELT
Quelle: United Archives via Getty Images

Der Besucher hieß Raimund Pretzel. Er schrieb diese Begegnung 1938 im Exil in London auf, in das er gegangen war, obwohl das NS-Regime ihn nicht politisch verfolgte. Das Manuskript wurde damals nicht veröffentlicht, aber im Jahr 2000 erschien es posthum unter dem Titel „Geschichte eines Deutschen“. Als Autor prangte Pretzels Künstlername Sebastian Haffner (1907–1999) auf dem Titel – und nicht nur der Kritikersprechadel überhäufte das Buch augenblicklich mit Lob. Auch beim Publikum war der Erfolg derartig, dass sich das Werk ab dem 18. Dezember ein Dreivierteljahr auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste hielt.

Dabei heißt es nicht umsonst, dass der Zeitzeuge der schlimmste Feind des Historikers sei. Oft genug enden die Erinnerungen von Senioren in einem Vortrag darüber, wie es früher „eigentlich gewesen ist“ – und warum kein Nachgeborener je begreifen wird, was sich abspielte. Ein umso rarerer Glücksfall waren Haffners Memoiren: Seine Beobachtungsgabe, sein Denkhorizont und seine Formulierungskunst ermöglichten Einsichten, die alle geschichtswissenschaftliche Literatur nicht bieten konnte. Das Werk deckt den Zeitraum vom August 1914 – da war Haffner ganze sechs Jahre alt – bis zum Herbst 1933 ab, also grob jene Spanne, die bis heute die unbeantworteten Fragen aufwirft, wie Hitler an die Macht kommen und sie dann rasch festigen konnte.

Haffners Blick ist originell, das belegt schon der erste Satz im Prolog: „Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art von Duell.“ Als Kombattanten nennt der Autor das Deutsche Reich und sich als Privatmann. Das führt zu dem Problem, dass der Leser nur glauben kann, was Haffner über sich selbst als Person schreibt. Da sich nichts findet, was auf ein übertriebenes Ego schließen lässt, ist das zu verschmerzen. Ebenfalls im Prolog führt Haffner die Technik ein, über den Erkenntniswert seiner Ausführungen nachzudenken. Der Text wird so zu einer Collage aus essayistischen Betrachtungen und Reportagen.

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Die erste Reflexion beschäftigt sich mit der Durchschlagskraft historischer Ereignisse auf das alltägliche Leben. Der Autor argumentiert, während die Entlassung Bismarcks hier kaum Spuren im Dasein jedes Einzelnen hinterlassen haben dürfte, hätten der Kriegsausbruch 1914, die Niederlage, die anschließende Revolution, die Inflation oder die Machtübertragung auf Hitler sehr deutliche Auswirkungen gehabt. Damit wird der Autor zum historischen Akteur.

Haffner zufolge legte der Erste Weltkrieg in seiner Generation die Grundlagen, um später für den NS empfänglich zu sein. Die Revolution von 1918 war für ihn alles andere als eine Werbung für die Demokratie, das Erlebnis des Hyperinflationsjahres 1923 habe einen Nihilismus befeuert, der zwar kurzfristig habe narkotisiert werden können, aber in der Wirtschaftskrise nach 1930 eine Wucht entfaltete, dem die liberalen Kräfte nichts mehr entgegenzusetzen gehabt hätten. Hinzu kommen einige Spekulationen über einen deutschen „Nationalcharakter“, die trotz ihrer Pauschalität häufig Zutreffendes enthalten – etwa wenn vom deutschen Hang zur Massenekstase die Rede ist.

Diese Betrachtungsweise war damit im Jahr 2000 nichts Neues. Einzigartig macht die Lektüre allerdings schon die Figur des Autors selbst. Als Sohn eines liberalen preußischen Akademikers, der als Beamter dem Reich diente, gehörte Haffner zu jener elitären Schicht, die das politisch-kulturelle Leben im Kaiserreich dominierte, die nach 1918 aber an Macht einbüßte; die Rede ist vom protestantischen Bildungsbürgertum.

Heeresberichte waren eine Art Sportteil

Diese Herkunft formt den Werdegang und die Wahrnehmung des Autors gleichermaßen: Die Biografie erzählt von einem Mann, der auf Anraten seines Vaters mit mäßiger Begeisterung, aber großem Pflichtbewusstsein Jura studiert. Haffner gibt sich als Individualist zu erkennen, indem er stets den Wert des Privaten betont. Nur in dieser Sphäre ist es ihm möglich, sich mit Büchern und Musik zu beschäftigen, Freundschaften zu pflegen und überhaupt all die Dinge zu tun, die das NS-Regime den Deutschen wegnahm.

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Inhaltlich verblüfft bis heute, wie gut es Haffner gelingt, die kindliche Sicht darzustellen, aus der er den Ersten Weltkrieg erlebte. Für ihn waren die Heeresberichte eine Art Sportteil in der Zeitung. Die eigene Armee fungierte als Mannschaft, zu der Haffner hielt, er hasste den Gegner nicht, aber saugte die Siegesmeldungen in sich auf, die die Propaganda stets bereithielt. Begleiterscheinungen wie den Hunger nahm er hin, solange an der Front die Richtung stimmte, und die stimmte immer, bis Deutschland plötzlich verloren hatte. Ein Junge, der keine elf Jahre alt war, konnte das unmöglich begreifen.

Bei der Charakterisierung der Geschehnisse um den 9. November 1918 fließen Haffners analytischer Blick des Jahres 1938 mit der Kinderperspektive zusammen. Der Reichskanzler Friedrich Ebert und der Volksbeauftragte für Heer und Marine Gustav Noske, die gemeinsam den Spartakusaufstand vom Januar 1919 niederschlagen ließen, gelten Haffner als Männer ohne klare Gesinnung. Dafür führt er Gründe an, die ein Junge nicht erkennen konnte. Dass wiederum das Wetter im November 1918 so trübe war, dass es überall größere Begeisterung für die neue Republik verhinderte, kann der Autor gut schon als Kind empfunden haben.

Herausragend sind auch die Schilderungen zum Krisenjahr 1923, zeigen sie doch ganz konkret, was die Hyperinflation im Leben der Familie anrichtete. Da der Vater sein Gehalt monatlich erhielt, verfügte die Mutter, dass die Familienmitglieder am Tag der Bezahlung alle Dinge kauften, um das Überleben zu sichern. Haffner erzählt klar und nüchtern von den Schwierigkeiten, die das mit sich brachte.

Das Aquarell „Bis früh um Fünfe“ von Lutz Ehrenberger aus dem Jahr 1922 zeigt einen jener Exzesse, die für Haffner den Nihilismus befeuerten
Das Aquarell „Bis früh um Fünfe“ (1922) von Lutz Ehrenberger zeigt einen jener Exzesse, die für Haffner den Nihilismus befeuerten
Quelle: picture-alliance / akg-images

Um die Familie herum brachen derweil Existenzen reihenweise zusammen, die Erfahrungen älterer Menschen waren so entwertet wie die Mark. Dafür gelang es einigen jungen Männern, durch Spekulationen reich zu werden, was sie für eine wüste Party voller Sex und Drogen nutzten. Ein Verhalten, das Haffners These stützt, das Jahr 1923 habe die Deutschen durch seinen Nihilismus reif für die braune Barbarei gemacht.

Die Beobachtungen zum Zusammenspiel von nationalen Massenevents, Terror und straffer Organisation nach dem 30. Januar 1933 gehören zum Besten, was die deutsche historische Essayistik hervorgebracht hat. Wer nicht zu Brei geschlagen wurde, ist die Lehre, war von den Geschichten aus den Folterkellern und KZs so verängstigt, dass er keinen Widerstand mehr leisten konnte. Die Revolutionäre dagegen trugen kein Risiko und brauchten keinen Mut für ihren Umsturz – Haffner macht aus seinem Ekel darüber keinen Hehl.

Pathos der gemeinsamen Entbehrung

Diese Passagen übertrifft nur die Reportage aus dem Lagerleben, das Haffner im Herbst des gleichen Jahres über sich ergehen lassen musste, um sein Assessor-Examen ablegen zu können. Heute ist schon die Vorstellung absurd, dafür kaserniert zu werden. Doch hatte das NS-Regime diese Voraussetzung für Juristen rasch verfügt. Und so marschierte der junge Haffner durch die Gegend von Jüterbog, sang völkische Lieder, schlief im Stockbett und musste Hitler-Reden im Radio zuhören.

Sein Befinden besserte sich erst, als Militärs auftauchten: Plötzlich durften die Eingepferchten Gewehre auseinandernehmen und Krieg spielen, der Verlust jeder bürgerlichen Privatsphäre erhielt damit einen Sinn, weil Kameradschaft entstand. Haffner konstatiert im Nachhinein, dies sei der schlimmste Trick der Nationalsozialisten gewesen. Der bürgerlich-zivile Staat zeichnet sich für ihn gerade dadurch aus, dass er keine Kameradschaft braucht, um zu funktionieren, kein Pathos der gemeinsamen Entbehrung, die alle gleich macht, und die nur durch eine ernste Gefahrensituation zu rechtfertigen ist.

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Es leuchtet ein, dass die Nationalsozialisten ihre Macht so rasch ausbauen konnten, weil es ihnen gelang, einen Großteil der Deutschen zu Friedenszeiten in ein derartiges Korsett zu pressen. Und es schadet Haffners Werk nicht, dass der Bericht abrupt mit einer Szene abbricht, die beschreibt, wie sich die Lagerkameraden bei einem Wiedersehen in einer Berliner Kneipe nichts mehr zu sagen haben, eben weil diese Situation keine Kameradschaft erfordert.

Es spricht sicher Einiges dafür, dass Haffner noch manche neuen Perspektive auf die NS-Herrschaft ermöglicht hätte, wenn er das Manuskript weitergeführt hätte. Doch geben ja die „Anmerkungen zu Hitler“ über seine spätere Sicht der Dinge Auskunft. Und auf keinen Fall kann die historische Forschung, die seit dem Dezember 2000 geleistet wurde, ein solches Urteil verhindern: Wenn es ein Buch über die Jahre von 1914 bis 1933 gibt, das zu lesen lohnt, dann ist es Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“.

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