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  3. Krawalle 1930: Goebbels kämpfte mit echten weißen Mäusen

Geschichte Nazikrawalle 1930

„Am Freitag soll den Eunuchen Mores beigebracht werden. Ich freue mich darauf“

Anfang Dezember 1930 kam der US-Film „Im Westen nichts Neues“ nach Erich Maria Remarques Roman in deutsche Kinos. In Berlin organisierte NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels eine ganz besondere Attacke gegen die „elende Tendenzmache“.
Leitender Redakteur Geschichte
„Im Westen nichts Neues“ (1930)

Zweimal wurde der in deutscher Sprache geschriebene Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Remarque bereits verfilmt, 1930 fürs Kino und 1979 fürs Fernsehen. Sehen Sie hier den Trailer der alten Kinoversion.

Quelle: Universal Studios

Autoplay

Vorauseilender Gehorsam hatte nichts genutzt. Die Produktionsfirma Universal Pictures hatte die US-Fassung des Kriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ für die Veröffentlichung in Deutschland um elf Minuten gekürzt, von 147 auf 136 Minuten. Empfohlen hatte das der deutsche Generalkonsul in Los Angeles.

Doch die Gegner des mit zwei Oscars ausgezeichneten Films nach dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque über die Erlebnisse einiger Kriegsfreiwilliger an der Westfront 1914 bis 1918 ließen sich von derlei Kosmetik nicht besänftigen. Ebenso wenig interessierte sie, dass die seinerzeit für die Zulassung zuständige Filmprüfstelle Berlin „keinerlei Bedenken“gegen die Aufführung hatte. Der Film von Regisseur Lewis Milestone lasse „die Vorzüge des alten Heeres, Tapferkeit, Zähigkeit und Kameradschaftlichkeit durchaus erkennen“.

Szene aus „Im Westen nichts Neues“: Paul Baumer (Lew Ayres) wird von dem Veteranen Katczinsky (Louis Weinheim) nach einem Streifschuss versorgt
Szene aus "Im Westen nichts Neues": Paul Baumer (Lew Ayres) wird von dem Veteranen Katczinsky (Louis Weinheim) nach einem Streifschuss versorgt
Quelle: picture alliance / United Archiv

Das sah Joseph Goebbels, NSDAP-Gauleiter in der Reichshauptstadt und wegen seines missgebildeten Fußes niemals zum Militär eingezogen, ganz anders. Schon bald nach dem Erscheinen von Remarques Roman hatte er am 21. Juli 1929 in sein Tagebuch notiert: „Ich lese ,Im Westen nichts Neues‘. Ein gemeines, zersetzendes Buch.“ Zwei Tage später schrieb er: „,Im Westen nichts Neues‘ zu Ende gelesen. Eine elende Tendenzmache.“

Natürlich wusste der Hitler-Gefolgsmann mit seinem überragenden Instinkt für wirksame Propaganda, dass die Verfilmung noch um einiges publikumswirksamer sein würde als das Buch. Deshalb suchte er sich den Kinostart für eine besondere Aktion aus. Am 3. Dezember 1930, einem Mittwoch, schrieb er wohl wie üblich am frühen Morgen in seine Kladde: „Am Freitag gehen wir in den Film ,Im Westen nichts Neues‘. Da soll den Eunuchen Mores beigebracht werden. Ich freue mich darauf.“

J.Goebbels,Rede als Gauleiter/Hoffmann Goebbels, Joseph, Politiker (NSDAP), Rheydt 29.10.1897 - (Selbstmord) Berlin 1.5.1945. - Goebbels waehrend einer Rede als Gau- leiter in Berlin. - Foto, um 1931 (H.Hoffmann); digitale Kolorierung. |
Joseph Goebbels um 1930 in einer typischen Rednerpose (zeitgenössisch coloriertes Foto)
Quelle: picture-alliance / akg-images

Es handelte sich um die erste öffentliche Abendvorstellung im Mozartsaal, einem großen Kino am Nollendorfplatz in Berlin-Schöneberg. Die nur für geladene Gäste zugängliche Premiere am Donnerstagabend und die erste allgemein zugängliche Vorführung am Nachmittag des 5. Dezember waren problemlos abgelaufen. Das änderte sich nun.

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Goebbels hatte ein klares Ziel: Er wollte den Eindruck erwecken, die Zuschauer seien über den „amerikanischen Hetzfilm“ derart empört, dass sie von sich aus protestiert hätten. Doch dem Zufall mochte er das nicht überlassen, also beorderte er ein „Rollkommando“ ausgesuchter Parteigenossen und SA-Leute in den Mozartsaal. Sie verwandelten die Vorführung in ein „Tollhaus“.

Erich Maria Remarque. eigentlich E. Paul Remark, deutscher Schriftsteller. Welterfolg mit dem Antikriegsroman »Im Westen nichts Neues« . Photographie. Um 1930. |
Erich Maria Remarque um 1930
Quelle: picture-alliance / IMAGNO/Austri

Nationalsozialisten hatten, ohne sich zu erkennen zu geben, etwa 200 Karten für die Vorstellung gekauft – fast ein Fünftel der Gesamtkapazität. Der Film lief noch keine zehn Minuten, berichtete das SPD-Blatt „Vorwärts“, als die ersten Störungen ertönten: „Juden raus!“ Auf dem oberen Rang des Saals erhob sich wenig später Ludwig Münchmeyer, ein ehemaliger evangelischer Pfarrer und wüster Antisemit, inzwischen Reichstagsabgeordneter der NSDAP, und begann eine Hetzrede über den Filmton zu schreien.

Als der Vorführer nun stoppte und das Licht im Saal anschaltete, steigerte sich der Aufruhr noch. Es kam zu Schlägereien zwischen SA-Leuten und Besuchern, die sich gegen die Störer wandten. Bald flogen auch Stinkbomben, und schließlich ließen die Nazis auf Goebbels’ Geheiß mitgebrachte weiße Mäuse im Saal frei, wodurch die Panik des Publikums nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war.

Abendvorstellung des Films "Im Westen nichts Neues" von Autor Erich Maria Remarque im Mozartsaal am Berliner Nollendorfplatz. Uraufführung am 4. Dezember 1930 in eben diesem Kino. Die Polizei rüstet sich für den Aufmarsch der zu erwartenden Demonstranten, die gegen die Aufführung des Films protestieren. Berlin. Photographie. 9.12.1930. |
Berliner Polizei vor dem Ausgang des Kinos Mozartsaal im Dezember 1930
Quelle: picture alliance / IMAGNO/Austri

Die inzwischen alarmierte Polizei musste den Saal schließlich unter Androhung von Gewalt räumen. Später fand man noch mehrere Kartons mit Stinkbomben, die nicht zum Einsatz gekommen waren. Die Geschäftsführung des Mozartsaals musste natürlich die Nachtvorstellung ebenfalls absagen, denn der Saal war verschmutzt und musste dringend gelüftet werden.

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„Die Demonstranten hatten dann noch die Unverfrorenheit, wegen Abbruchs der Vorstellung ihr Eintrittsgeld zurückzufordern“, berichtete das Fachblatt „Filmkurier“ in seiner nächsten Ausgabe und fügte hinzu: „Sie zerschlugen eine Scheibe der Kasse und bedrohten die Kassiererin.“ Doch das Geld war schon im Safe des Kinos in Sicherheit.

Gleichzeitig mit den Störungen im Saal hatten sich weitere NS-Anhänger vor dem Kino zusammengerottet und randalierten hier, behinderten auch die Polizei, als die Beamten eingreifen wollten. Drei besonders aggressive SA-Leute wurden vorläufig festgenommen.

Am nächsten Morgen mussten mehrere Kammerjäger beschäftigt werden, um die Mäuse zu fangen, wie die linksliberale „Berliner Volkszeitung“ meldete. Natürlich bekamen die Ausschreitungen an diesem Samstag, dem 6. Dezember 1930, viel Platz in der Berliner Presse. Die bürgerlich-liberale „Vossische Zeitung“ etwa berichtete von „andauerndem Lärmen“ und „schrillen“ Pfiffen. „Stinkbomben“ seien geworfen, das Publikum „körperlich bedroht“ worden.

Demonstrationsverbot in Berlin! Infolge der Ruhestörungen durch die Aufführung des Remarque-Films "Im Westen nichts Neues" ist ein Demonstrationsverbot für Berlin erlassen worden. Die Polizei sicherte die Strassen und Plätze im Berliner Westen mit Wasserwerfer und grossem Polizeiaufgebot. Der Wasserwerfer der Schutzpolizei am Wittenbergplatz in Berlin zur Verhinderung nächtlicher Demonstrationen.
Mit Wasserwerfern versuchte die Polizei in Berlin, das Demonstrationsverbot durchzusetzen
Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv Bild 102-10865/CC BY-SA 3.0 de

Nachmittags behauptete hingegen die Berliner NSDAP-Abendzeitung „Der Angriff“, ein übles Hetzblatt, es habe sich ein „Proteststurm des Publikums“ gegen die Remarque-Verfilmung erhoben, als die „Feigheit von Kriegsfreiwilligen gezeigt wurde“. Es sei zu „von Juden provozierten schweren Schlägereien“ gekommen, derentwegen die Polizei habe eingreifen müssen. Davon war kein Wort wahr.

An den folgenden Abenden protestierten SA-Leute auf dem Nollendorf- und dem nahe gelegenen Wittenbergplatz sowie auf dem Kurfürstendamm. Schließlich knickte auch die Filmprüfstelle am 11. Dezember 1930 ein und zog die Aufführungserlaubnis zurück. Die Ausschreitungen waren nicht der einzige Grund, denn zudem hatten mehrere rechtsgerichtete Landesregierungen gegen den Film protestiert.

Demonstrationen der Nationalsozialisten gegen den Remarquefilm "Im Westen nichts Neues". Wien. Photographie. 4.1.1930. |
Auch in Wien gab es organisierte Proteste von Nationalsozialisten gegen "Im Westen nichts Neues" –
Quelle: picture-alliance / IMAGNO/Austri

In einer späteren, 1937 erschienenen Selbstdarstellung der Berliner SA las sich das natürlich ganz anders. Unter dem Datum 5. Dezember 1930 stand in dem Band „Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin“, einer Art Baedeker des politischen Kampfes um die Reichshauptstadt: „Sprengung der Erstaufführung des jüdisch-amerikanischen deutschfeindlichen Remarque-Films ,Im Westen nichts Neues‘ durch Dr. Goebbels und die SA. Am 11. Dezember wurde endlich das Verbot des Filmes erzwungen.“

Am selben Tag nannte NSDAP-Chef Adolf Hitler die Remarque-Verfilmung, die er nie gesehen hatte, bei einem Auftritt in Braunschweig „einen Schandfilm, der den deutschen Soldaten verhöhnt“. Erst 1952 kam eine abermals gekürzte und neu synchronisierte Fassung in westdeutsche Kinos, und sogar erst 1984 konnte eine Rekonstruktion der Version von 1930 ausgestrahlt werden.

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