Am Morgen des 20. Juni 1900 war der deutsche Gesandte am chinesischen Kaiserhof, Clemens von Ketteler, mit seinem Dolmetscher auf dem Weg ins Außenministerium, als er von einem Soldaten gestoppt wurde. Der Korporal des mandschurischen Regiments, der am Ha-Ta-Men-Tor Dienst tat, feuerte. Ketteler starb. Der Attentäter wurde zwei Monate später enthauptet. Doch das war nicht die einzige Reaktion. Dem deutschen Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee wurde das Oberkommando über ein internationales Expeditionskorps übertragen, das den sogenannten Boxeraufstand in China niederschlagen sollte.
Doch so einfach ist es nicht gewesen. Ob der Korporal das Attentat geplant, auf Befehl gehandelt oder der Diplomat den Angriff sogar provoziert hatte, ist bis heute ungeklärt. Auch richtete sich die gemeinhin „Boxeraufstand“ genannte Rebellion keineswegs gegen die Regierung, sondern gegen „die Fremden“, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Stellung in China systematisch ausgebaut hatten.
Um 1900 war das Kaiserreich China ein krisengeschütteltes Land. Die seit 1644 herrschende Qing-Dynastie hatte abgewirtschaftet. Weite Gebiete waren durch Bürgerkriege und Naturkatastrophen verwüstet worden. Das Festhalten an traditionellen Formen hatte es europäischen Gro��mächten, den USA und dem aufstrebenden Japan leicht gemacht, China unter militärischem und wirtschaftlichem Druck zu „ungleichen Verträgen“ zu zwingen, in denen ihnen Privilegien und ganze Regionen zugestanden wurden.
Der Versuch von Reformern, ein umfassendes Modernisierungsprogramm in Gang zu setzen, scheiterte am Widerstand der konservativen Hofclique um die Kaiserinwitwe Cixi, die sich in einem Staatsstreich an die Macht putschte. In dieser Situation fanden auf dem Land Verarmte, Enttäuschte und Entwurzelte vor allem im Norden Chinas zusammen und bewaffneten sich nach dem Vorbild traditioneller Kampfschulen. Massentrancen und Unverwundbarkeitsrituale mehrten schnell ihre Anhängerschaft.
Was westlichen Beobachtern abfällig als „Boxer“ erschienen, waren heterogene Gruppen, die der Hass auf die „weißen Teufel“ und die Christen im Allgemeinen einte. Denn auch die westlichen Missionare genossen die Privilegien ihrer Staaten, sodass die Gläubigen, die sie in China gewannen, als Kollaborateure galten. Sie wurden die ersten Opfer der „vereinigten Faustkämpfer“.
Zugleich wurden die „haarigen Barbaren“ attackiert, denen vorgeworfen wurde, die Brunnen zu vergiften, Kleinkindern die Augen und Herzen auszuschneiden und dadurch alle Katastrophen des Landes heraufzubeschwören. Denn im Grunde war „der Boxeraufstand eine Rebellion gegen die Moderne“, schreibt der Hamburger Historiker und Sinologe Kai Vogelsang. Marodierend gingen die Boxer gegen ausländische Einrichtungen vor. Zehntausende Christen wurden ermordet. Im Mai erreichte die Bewegung die Hauptstadt Peking.
Um das exterritoriale Gesandtschaftsviertel zu sichern, rückte eine britische Streitmacht zur Unterstützung von der Küste heran, wurde aber zurückgeschlagen. Die 475 ausländischen Zivilisten, 2300 chinesischen Christen und 450 Soldaten sahen sich von 20.000 Chinesen eingeschlossen. Von der britischen Botschaft aus wurde die Verteidigung organisiert. Die Kommunikation zur Außenwelt brach ab.
Als eine internationale Flotte am 17. Juni das Feuer auf die Küstenforts von Dagu eröffnete, sah der Kaiserhof die Chance, sich an die Spitze der Rebellion zu stellen und rief zum Krieg gegen „die Ausländer“ auf. Die Provinzgouverneure wurden angewiesen, „die Grenzen zu verteidigen“. Die Boxer skandierten nicht mehr „Stürzt die Qing“, sondern „Unterstützt die Qing, tötet die Fremden“.
Doch viele Beamte verweigerten sich dem, wie sie es sahen, „chaotischen Befehl“. Sie erkannten zum einen, dass sich die Wut der Boxer im Grunde gegen die soziale und politische Verfassung des Reiches richtete. Auch schätzten sie die Chancen „einer Horde langhaariger, zerlumpter Bauern, die mit Schwertern und Lanzen gegen die Armeen der Industriemächte kämpfen sollten“ (Kai Vogelsang) realistisch ein.
Bereits im Juli gelang es den internationalen Truppen, die Hafenstadt Tianjin einzunehmen. Im August landete eine alliierte Armee – 8000 Japaner, 4800 Russen, 3000 Briten, 2100 Amerikaner, 800 Franzosen, 58 Österreicher und 53 Italiener – und rückte schnell gegen Peking vor. Das deutsche Expeditionskorps aus 17.000 Mann unter Graf Waldersee war noch gar nicht eingetroffen.
Doch die Worte, mit denen Kaiser Wilhelm II. am 27. Juli seine Soldaten in Bremerhaven verabschiedete, sollten bald die Runde machen: „Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht ... Wie vor 1000 Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht … so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ Wilhelms „Hunnen“ sollten in der Ententepropaganda des Ersten Weltkriegs ihre Wiederauferstehung erleben.
Am 14. August entsetzten die Alliierten das Gesandtschaftsviertel von Peking. Die Kaiserinwitwe floh und vollzog erneut eine Kehrtwendung. Sie wies nunmehr ihre Gouverneure an, mit aller Macht gegen die Umtriebe der Boxer vorzugehen. Öffentliche Massenhinrichtungen waren die Folge. Zugleich starteten die internationalen Truppen, verstärkt durch Deutsche und Franzosen, Strafexpeditionen, die sich zu Plünderungen und Massakern auswuchsen.
Dass die Großmächte China nicht wie den Rest der Welt unter sich aufteilten, verdankte das Kaiserreich einem Machtspruch der USA, die eine informelle Durchdringung favorisierten. Die Grundlage dazu schuf das sogenannte Boxer-Protokoll. Darin musste sich die chinesische Regierung verpflichten, die beteiligten Beamten zu bestrafen, Festungen zu schleifen, den Schutz von Ausländern zu garantieren, eine entwürdigende Sühnemission nach Europa zu senden und erdrückende Reparationen in Höhe von 450 Millionen Silberunzen zu leisten.
Das „Boxer-Protokoll“ markierte den Höhepunkt der „ungleichen Verträge“, die auswärtige Mächte seit dem Ersten Opiumkrieg Englands gegen China dem Kaiserreich aufgezwungen hatten. Die traumatische Erinnerung daran, zumal an die schwere Niederlage im Krieg gegen Japan 1895, prägt die Politik Chinas noch heute.
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Dieser Artikel wurde erstmals im September 2020 veröffentlicht.