Gleich 890 Namen standen auf der Liste, die am 5. Februar 1920 im liberalen „Berliner Tageblatt“ erschien. Darunter waren viele öffentlich Unbekannte, einfache Soldaten offenbar, und sogar eine Frau, die Lageraufseherin Elsa Scheiner. Aber auf der Liste standen ebenfalls Männer, die jeder Deutsche kannte: Theobald von Bethmann Hollweg zum Beispiel, 1909 bis 1917 Reichskanzler. Feldmarschall Paul von Hindenburg. Und General Erich Ludendorff. Es war die erste Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher, deren Auslieferung an die Siegermächte im Versailler Vertrag festgeschrieben worden war.
Wie kaum ein anderer kennt sich der Jurist Gerd Hankel mit der rechtlichen Behandlung von Kriegsverbrechen aus. Über die Verfahren nach dem Ersten Weltkrieg, die als Folge der Veröffentlichung vom 5. Februar 1920 begannen, hat er das Standardwerk „Die Leipziger Prozesse“ verfasst.
WELT: Wirklich überrascht konnte die deutsche Seite vom Auslieferungsbegehren der Siegermächte nicht sein, oder?
Gerd Hankel: Na ja. Zwar gab es schon frühzeitig, bereits im Herbst 1914, Hinweise darauf, dass Deutsche für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden sollten. Die deutsche Seite konterte mit Gegenvorwürfen, drohte ebenfalls strafrechtliche Vergeltung an. Das Übliche in Sachen Kriegspropaganda also. Dann, nach Bekanntgabe der wilsonschen Friedensvorstellungen, hat man in Deutschland wirklich gedacht, man verhandle in Versailles annähernd „auf Augenhöhe“. Das war nicht der Fall. Insofern war man schon überrascht, sehr sogar.
WELT: Was war denn dran an den Vorwürfen? Waren sie, nüchtern und aus einem Jahrhundert Distanz betrachtet, haltbar?
Hankel: Die kaiserlichen Soldaten und die Marine haben Kriegsverbrechen begangen, das steht außer Zweifel. Allerdings hatten die alliierten Vorwürfe auch etwas Maßloses. Einen Krieg zu beginnen war nach dem damaligen Stand des Völkerrechts nicht strafbar. Geiselerschießungen im Krieg ebenfalls nicht. Das gewohnheitsrechtliche Repressalienrecht war sehr unscharf. Aber, was auch stimmt: Mit dem Argument des preußischen Kriegsbrauchs und der Kriegsnotwendigkeit schoben die Deutschen oft das Kriegsvölkerrecht beiseite, rechtfertigten Verbrechen, die nicht zu rechtfertigen waren.
WELT: Wie reagierte die deutsche Öffentlichkeit auf die Liste?
Hankel: Mit großer Empörung bis weit ins republikanisch-demokratische Lager hinein. Bis zum Sommer 1918 war ihr noch gesagt worden, der Sieg sei nur eine Frage der Zeit, er komme bald. Jetzt war der Krieg verloren und deutsche Soldaten, Helden für viele, sollten an den Feind ausgeliefert werden. Undenkbar. Lösungen mussten gefunden werden. Eine davon war zum Beispiel die „Organisation Ferienkinder“, die Beschuldigten das Untertauchen ermöglichen wollte.
WELT: Zur Auslieferung kam es dann nicht – warum nicht?
Hankel: Ich glaube, dass hier drei Faktoren zusammenspielten. Die Alliierten hatten kein Interesse, die äußerst angespannte politische Situation in der noch jungen Weimarer Republik noch weiter zu verschärfen. Dann erlahmte das Interesse der USA deutlich. Sie haben den Versailler Vertrag ja auch nicht unterschrieben. Und schließlich hat Deutschland, das neue, republikanische Deutschland, immer wieder beteuert, allen Tatvorwürfen nachgehen zu wollen, aber eben vor einem deutschen Gericht.
WELT: Vor dem Reichsgericht in Leipzig wurde 1921/22 gegen einige mutmaßliche Kriegsverbrecher verhandelt. Was war das Ergebnis?
Hankel: Das Reichsgericht führte Verfahren gegen 17 Personen durch. Zehn wurden verurteilt, sieben freigesprochen. Die verhängten Strafen bewegten sich zwischen sechs Monaten Gefängnis und fünf Jahren Zuchthaus. Höhere Dienstgrade wurden nicht verurteilt, da scheint sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit aufgelöst zu haben. Eine Ausnahme gibt es jedoch. Ein Major erhielt eine zweijährige Freiheitsstrafe. Er hatte allerdings auch gestanden, an der Erschießung von Kriegsgefangenen beteiligt gewesen zu sein. In allen anderen Fällen der Auslieferungsliste wurde das Verfahren eingestellt.
WELT: Man kann also sagen, dass die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert ist?
Hankel: Ich denke, das kann man so sagen. In der Summe jedenfalls. Zwar ist in Leipzig auch gezeigt worden, dass in einem Krieg nicht alles erlaubt ist und Menschen dafür persönlich verantwortlich sind. Aber das war nur ein Nebeneffekt. Wahr ist: Man wollte die Verfahren nicht und hat nach Kräften versucht, eine Strafverfolgung zu verhindern. Die meisten Deutschen sahen in der Auslieferungsliste eine „Ehrenliste“. Auch an diesem Urteil hat die deutsche Justiz ihren Anteil.
WELT: Was war die Konsequenz?
Hankel: Belgien und Frankreich hielten die ersten Verfahren 1921 für eine Farce und wollten keine Beweismittel mehr zur Verfügung stellen. Sie führten noch einige Jahre lang Abwesenheitsverfahren durch. Das war für die Betroffenen misslich, denn sie waren in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt. In all diesen Fällen wurden auch in Deutschland Ermittlungen eingeleitet und, nicht überraschend, eingestellt. Großbritannien war in der Kritik zurückhaltender. Immerhin seien Misshandlungen britischer Kriegsgefangener bestraft, dem deutschen Militarismus Grenzen aufgezeigt worden, hieß es dort.
WELT: Und was ist die Lehre, die man insgesamt aus den Leipziger Prozessen ziehen kann?
Hankel: Die Lehre ist eindeutig. Es sollte nicht Aufgabe eines Staates sein, eigene Verbrechen strafrechtlich aufzuarbeiten. Es sei denn, der Staat ist von seiner Struktur und seiner Erscheinungsform her ein neuer Staat. Doch besteht dann die Gefahr, dass an die Stelle von Desinteresse und Nachsicht das Bedürfnis nach Vergeltung und Rache tritt. Wie man es dreht und wendet, ein unabhängiger internationaler Strafgerichtshof ist die beste Option.
Gerd Hankel: „Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg“. (Hamburger Edition, 2003. 550 S., 30 Euro)
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