Auch nach dem Ende der Kämpfe im Westen Europas im November 1918 ging das Gemetzel des Ersten Weltkrieges in Ostmitteleuropa einfach weiter – noch zwei, teilweise fast drei Jahre. Im Mittelpunkt vieler dieser Kämpfe stand der nach mehr als einem Jahrhundert Nichtexistenz wiedererrichtete Staat Polen.
Kaum ein deutscher Historiker kennt sich in der verwickelten Vergangenheit des deutschen Nachbarstaates besser aus als Jochen Böhler. Er war zehn Jahre am Deutschen Historischen Institut in Warschau tätig und forscht seit 2010 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sein jüngstes, bisher noch nicht auf Deutsch erschienenes Buch behandelt den „Civil War in Central Europe“ in den Jahren 1918 bis 1921.
WELT: Der neue Nationalstaat Polen kämpfte seit seiner offiziellen Gründung am 11. November 1918 nacheinander und teilweise gleichzeitig gegen die Ukraine, Deutschland, die Tschechoslowakei, Litauen und das bolschewistische Russland. War Polen ein Aggressorstaat?
Jochen Böhler: Keineswegs! Die Kaiserreiche Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland waren im Verlauf des Ersten Weltkriegs untergegangen. Was ab 1918 folgte, war ein Verteilungskampf der neuen Nationalstaaten um vormals imperiales Territorium. Polen kämpfte nur so viele Grenzkämpfe gleichzeitig, weil es in der geografischen Mitte dieses mitteleuropäischen Bürgerkriegs lag, und es versuchte dabei ein Gebiet zu behaupten, das ihm im Zuge der Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts geraubt worden war.
WELT: Am 17. Juli 1919 vereinbarten Polen und die Ukraine eine Waffenruhe. Welche Bedeutung kam dem damals zu?
Böhler: Bereits seit Anfang November 1918 stritten Polen und Ukrainer über das ehemals habsburgische Ostgalizien. Die Waffenruhe besiegelte nur die militärische Unterlegenheit der Ukraine. Diese zeichnete sich schon ab April 1919 ab, als eine große polnische Streitmacht – die in Frankreich aufgestellte „Haller-Armee“ – in Ostgalizien einmarschierte, und das gegen den erklärten Willen der Alliierten in Paris. Der polnische Sieg sicherte dem Land zwar Ostgalizien, beschädigte aber seinen Ruf im Westen.
WELT: Und wie sieht man in Polen heute dieses Jubiläum?
Böhler: Die Kämpfe, die Polen um seine Grenzen zwischen 1918 und 1921 ausfocht, werden heute kaum thematisiert. Die 1918 erreichte Unabhängigkeit als Nationalstaat ist da – wie in den meisten Nachbarstaaten auch – viel wichtiger. Das ist halt auch ein positiv besetzter Erinnerungsort, während die Krisenjahre unmittelbar danach von innerer Zerstrittenheit, Leid, Entbehrung, Kriminalität, Gewalt und Massensterben geprägt waren. Das ist nicht gerade das Material, aus dem man nationale Mythen webt.
WELT: Wie ist überhaupt zu erklären, dass der Weltkrieg in Ostmitteleuropa noch so hart weitergeführt wurde? Schon 1914 bis 1918 waren ganze Landstriche total verwüstet worden, mit noch schlimmeren Folgen als an der Westfront …
Böhler: Der Weltkrieg ging ja gar nicht weiter. Was wir ab Ende 1918 beobachten, ist etwas ganz anderes, nämlich ein Bürgerkrieg zwischen den Erben derjenigen Imperien, die den Weltkrieg geführt hatten und nun verschwunden waren. Die mitteleuropäische Landkarte war in den ersten Nachkriegsjahren eine Tabula rasa, in die neue Grenzen – zum Großteil mit Waffengewalt – eingezogen wurden. Für die dort lebende Bevölkerung bedeutete dies freilich in der Praxis die Fortdauer des Leidens, das 1914 eingesetzt hatte.
WELT: Zu den Kernversprechen des 14-Punkte-Planes von US-Präsident Woodrow Wilson gehörte das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Musste dieses Ziel in multiethnischen Gebieten Ostmitteleuropas zwangsläufig in nationalistische Bürgerkriege führen?
Böhler: Ja und nein. Es kommt ganz darauf an, wie man Selbstbestimmung definiert, über Staatsbürgerschaft oder ethnische Zugehörigkeit. Wilson hatte Ersteres im Sinn, aber letztere Vorstellung dominierte in den Nachkriegskämpfen. In einem multiethnisch besiedelten Gebiet musste dies tatsächlich zu Loyalitätskonflikten und bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen führen. Große Teile der Bevölkerung – allen voran die Bauern – waren dabei noch gar nicht nationalistisch eingestellt und trauerten den Imperien nach.
Modell Nationalstaat einfach ungeeignet?
WELT: Ostmitteleuropa wird 100 Jahre nach dem Waffenstillstand zwischen Polen und der Ukraine wieder von ethnischen Spannungen belastet, teilweise zerrissen – denken wir an den Bürgerkrieg in der Ostukraine oder an die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten. Ist das Modell Nationalstaat einfach ungeeignet für dieses Gebiet?
Böhler: Früher hielt man die Imperien für „die Bösen“, weil sie ihre ethnischen Minderheiten unterdrückten, in jüngerer Zeit wirft man den Nationalstaaten, die 1918 entstanden, vor, selbst ihre Minderheiten unterdrückt und somit wie „kleine Imperien“ gehandelt zu haben. Entscheidend ist, egal ob Imperium oder Nationalstaat: Wenn die Bürger, gleich welcher Herkunft, sich mit ihrem Staat identifizieren können, haben Kräfte von außen weniger Ansatzpunkte, um einen Spaltklotz durch die Bevölkerung zu treiben.
WELT: Sehen Sie als Historiker denn eine Alternative? Etwa eine multiethnische Struktur wie einst das Habsburgerreich?
Böhler: Sowohl Nationalstaaten als auch Imperien können mit multiethnischen Bevölkerungsstrukturen umgehen, wenn sie Zugehörigkeit und Bürgerrechte nicht allein nach Abstammung oder Kulturkreis definieren. Im Übrigen kennt die Geschichte hier kein Entweder-oder: Man konnte im 19. Jahrhundert beispielsweise gleichzeitig Pole und Habsburger sein, so wie heute eine nationale Identität gar nicht im Widerspruch zu einer europäischen steht. Das eigentliche Übel sind ethnischer Nationalismus und Imperialismus.
Jochen Böhler: „Civil War in Central Europe 1918–1921“ (Oxford University Press. 242 S., 44 Euro).