Was fast gleich aussieht, kann, muss aber nicht zwangsläufig kopiert sein. Nur Flugzeug-Kenner vermögen auf den ersten Blick das britisch-französische Überschall-Passagierflugzeug Concorde zu unterscheiden von der Tupolew Tu-144, ihrem sowjetischen Pendent. Am 31. Dezember 1968 absolvierte der erste Prototyp der Maschine seinen Erstflug und schlug damit die westliche Entwicklung um gut zwei Monate.
War die Tu-144 eine Kopie der Concorde, womöglich sogar aufgrund gestohlener Pläne? Westliche Beobachter sahen es jedenfalls so und gaben dem sowjetischen Silvesterkracher umgehend den zynischen Spitznamen „Concordski“. Die Russen und besonders das Konstruktionsbüro von Alexei Tupolew bestritten das stets energisch; sie hätten ihr Überschall-Flugzeug eigenständig entwickelt.
Wer Fotos der beiden Maschinen nebeneinander sieht, vermag sich das kaum vorzustellen. Denn das Grundkonzept beider Jets war nahezu identisch: Beide waren lang gestreckte Deltaflügler, beide hatten für die Landung abklappbare Cockpits, beide verfügten über jeweils vier dicht aneinander und weit hinten eingebaute Strahltriebwerke. So viele Zufälle bei der Konstruktion voneinander unabhängiger hochkomplexer Technik kann es eigentlich nicht geben.
Nachweislich hat die UdSSR das britisch-französische Concorde-Projekt ausspioniert. Dafür gibt es eine Fülle von Beweisen. Ein Agent der DDR-Staatssicherheit wurde sogar zu zwölf Jahren Haft wegen Spionage verurteilt; er hatte fast fünf Jahre lang französische Ingenieure dafür bezahlt, dass sie ihm Informationen über das westliche Projekt lieferten. Wenig später, Anfang 1965, wies Frankreich den Leiter des Pariser Aeroflot-Büros aus, weil er versucht hatte, Informanten anzuwerben. 1966 wurden die beiden CSSR-Bürger Stephan K. und Jean S. festgenommen. Sie hatten sich als Priester verkleidet und wurden wegen Concorde-Spionage später zu acht und vier Jahren Haft verurteilt.
Trotzdem gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen Tu-144 und Concorde. So ist die für jedes Fluggerät entscheidende Tragflächengeometrie bei der sowjetischen Maschine wesentlich einfacher. Die vier Triebwerke waren wesentlich dichter am Rumpf eingebaut. Und die ursprünglich eingebauten Turbinen folgten einem anderen Konstruktionsprinzip; erst das sechste Vorserienmodell bekam mehr als ein Jahr nach seinem Erstflug im Jahr 1976 Triebwerke, die jenen der Concorde technisch vergleichbar waren.
War die Tu-144 nun eine Kopie oder nicht? Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Dass ein Deltaflügler der richtige Ansatz für ein Überschall-Flugzeug sein dürfte, war in den 1960er-Jahren kein Geheimnis: Die Jagdflugzeuge Convair F-102 und Mirage III waren ebenso Deltaflügler wie der britische Bomber Avro Vulcan.
Andererseits zeigt der Vergleich dieser Konzepte mit anderen Überschall-Maschinen wie dem US-Modell Convair B-58 oder den viel gebauten sowjetischen Jagdeinsitzern Suchoi Su-9 und MiG-21, dass die grundsätzliche Entscheidung für das Konzept dreieckiger Tragflächen zu sehr unterschiedlichen Umsetzungen führen konnte. So ähnelten die nie realisierten Konzeptstudien der US-Flugzeugbauer Boeing, Lockheed und North American für einen Überschall-Passagierjet der Concorde deutlich weniger als die Tu-144.
Als sehr wahrscheinlich darf daher gelten, dass die Tupolew ihrem Konzept nach eine Kopie der frühen Entwicklungsstufen der Concorde war. Jedoch war die sowjetische Luftfahrtindustrie wohl nicht in der Lage, die konstruktiven Herausforderungen zu meistern, die das britisch-französische Team bewältigte – sowohl was die hinreichend stabile Konstruktion der Tragflächen anging wie die Triebwerke.
Hier ergänzte Tupolew deshalb hinreichend erprobte, aber für ein so großes Flugzeug ungeeignete Hilfskonstruktionen aus anderen sowjetischen Entwürfen. Es ging ja vor allem darum, die Tu-144 vor der Concorde zum Fliegen zu bringen. Die langfristige Nutzung stand nicht im Vordergrund. Schon der zweite Prototyp, der erst zweieinhalb Jahre nach der ersten Maschine abhob, war deshalb ein weitgehend um-, manche Beobachter sagen auch: neu konstruiertes Flugzeug.
Insgesamt wurden von der Tu-144 genau 16 Stück gebaut, also nur vier weniger als von der Concorde. Doch die britisch-französische Konstruktion flog bis zum katastrophalen Absturz am 25. Juli 2000 in Paris unfallfrei und beförderte insgesamt zwischen 1976 und 2003 auf rund 50.000 Flügen mehr als 2,5 Millionen Passagiere mit Überschallgeschwindigkeit.
Die Tupolew dagegen war gerade einmal ein gutes halbes Jahr, von November 1977 bis Mai 1978, im Liniendienst. Insgesamt erreichten mit dem sowjetischen Jet nur 3284 Gäste das Tempo von Mach 2. Der Silvesterkracher von 1968 endete als Rohrkrepierer.
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