Ende des Ersten Weltkriegs, schmachvoller Friedensvertrag: Im Schloss zu Versailles wurde vor 100 Jahren das Ende des Deutschen Kaiserreichs besiegelt. Während derzeit zahlreiche Politikertreffen, Bücher und Ausstellungen auf die Jahre 1918 und 1919 blicken, richtet der Ludwigsburger Historiker Tobias Arand in seinem neuen Buch „,Welche Siege, welche Verluste‘“ seinen Blick auf einen Ausgangspunkt dieser Ereignisse: auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und die „blutige Reichsgründung“, die in eben jenem Spiegelsaal des Versailler Schlosses ihren Ausdruck fand, in dem 48 Jahre später deutsche Politiker den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnen mussten.
Arands These: Es führt sicher kein direkter Weg vom so stark mythisierten Sieg der Deutschen 1871 zum Ersten Weltkrieg. „Und doch lag in der kriegerischen Wurzel des Reichs vieles von dem begründet, was dem Triumph von 1870/71 in der Rückschau den Beigeschmack eines bitteren Sieges verleiht.“ 1870/71 sei bereits ein Laboratorium der technisch-industrialisierten Moderne und des nationalisierten, durch Massenmedien geschürten Fanatismus gewesen. Der Erste Weltkrieg wäre in seiner Brutalität und seinem Hass jedenfalls nicht denkbar gewesen „ohne das deutsch-französische Unglück des enthemmten National- und Volkskriegs von 1870/71“.
Der Deutsch-Französische Krieg war der letzte der drei „Einigungskriege“, mit denen Otto von Bismarck ein Deutsches Reich „aus Blut und Eisen“ schmiedete. Der Sieg hat das Geschichtsbild der Deutschen auf verhängnisvolle Weise geprägt. „Welch eine Wendung durch Gottes Führung“, hieß es in der deutschen Propaganda nach der entscheidenden Schlacht von Sedan am 1./2. September 1870, in der die französische Châlons-Armee vernichtend geschlagen wurde und Kaiser Napoleon III. in die Gefangenschaft geriet.
Damals wurde der Mythos vom unbesiegbaren deutschen Soldaten geboren, schreibt Arand. Der gewonnene Krieg gab allem Militärischen im Kaiserreich einen übersteigerten Stellenwert. Bis heute prägen Bismarckstatuen, Weißenburgstraßen, Sedanplätze, Denkmäler mit brüllenden Löwen, Lorbeerkränzen und Eisernen Kreuzen den öffentlichen Raum vieler deutscher Städte und Dörfer.
Im Juli 1870 zogen Hunderttausende in einen Krieg, der die Landkarte Europas veränderte. Das Buch zeichnet ein Panorama des Krieges aus Sicht der „kleinen Leute“ und der „großen Lenker“ – aus der Sicht von hohen Militärs, einfachen Soldaten, Krankenschwestern, Geistlichen, Diplomaten, Journalisten und Literaten. Manche von ihnen erwarteten ein Abenteuer, andere hatten Sorge um ihr Leben oder die Zukunft ihrer Familie, doch die meisten Männer auf beiden Seiten taten einfach nur das, was sie für ihre Pflicht hielten.
Dieser Krieg wurde von beiden Seiten mit großer Brutalität geführt; in vielen Punkten verweist er schon auf den technisierten und nationalistisch aufgeladenen Horror des Ersten Weltkriegs. Fast drei Millionen Männer wurden mobilisiert, darunter mehr als eine Million Deutsche. Nach dem Zusammenbruch von Napoleons III. Regime versuchte die neugegründete Dritte Republik, mit Massenmobilisierung und Guerillakrieg die drohende Niederlage abzuwenden, während die Deutschen Paris belagerten und mit schwerer Artillerie beschossen. Fast 200.000 deutsche und französische Soldaten starben. Für weitere Hunderttausende wurde der Krieg zum traumatischen Erlebnis.
„Die offizielle Erinnerungskultur nach 1871“, schreibt Arand, „ermöglichte keine Auseinandersetzung mit den Verlusten und den Traumata der Hinterbliebenen, der Invaliden wie der zumindest körperlich unversehrt gebliebenen Krieger“. Sie erhielten nur geringe Hilfen, viele verarmten. Die staatlichen Erinnerungsangebote, umgesetzt insbesondere von den Kriegervereinen, bestanden in immer wiederkehrenden Jubelfesten sowie in Stein oder Erz gehauener Kriegsbegeisterung.
Der dadurch geschürte Geist der Aggression und der Kriegsbejahung – Arand spricht von der „blinden Anbetung der rohen Gewalt“ und einem bis zur Überheblichkeit gesteigerten Selbstbewusstsein – sollte dann vier Jahrzehnte später schlimme Folgen haben. Als Kaiser Wilhelm II. im August 1914 zum Kriegseinsatz aufrief, bezog er sich nicht zufällig auf die vermeintliche Unterstützung Gottes, des obersten Heerführers, der in den Einigungskriegen „schon mit den Vätern war“.
Tobias Arand: „,Welche Siege, welche Verluste‘. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 erzählt in Einzelschicksalen“. (Osburg, Hamburg. 700 S., 30 Euro)
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