Patentrezepte sind gefährlich. Denn sie funktionieren in der Realität niemals, aber sie erzeugen Erwartungen, die oft katastrophale Folgen haben – gerade weil sie so einfach klingen.
Die Rechnung war schlicht: Man müsse nur fünf Monate lang jeweils mehr als 600.000 Bruttoregistertonnen britischen Frachtschiffraum versenken, dann müsse die Welt- und Seemacht Nummer eins kapitulieren. Einfach weil die Versorgung der Britischen Inseln mit Lebensmitteln über die heimische Produktion hinaus, aber auch mit allen Arten von Kriegsmaterial zusammenbrechen würde. So jedenfalls kalkulierte der deutsche Admiralstab Anfang 1917. Fünf Monate – das war nach zweieinhalb Jahren Krieg mit bereits Millionen Toten eine durchaus überschaubare Zeit.
Um allerdings tatsächlich Tag für Tag je nach Größe drei bis zehn typische Frachtschiffe in den Gewässern um Großbritannien zu versenken, sollten die deutschen Unterseeboote auf alles schießen, was ihnen vor die Torpedorohre kam: Kriegsschiffe und Handelsschiffe unter feindlicher Flagge, aber auch Schiffe aus neutralen Staaten, sofern sie im Verdacht standen, britische Häfen anzusteuern.
Nach der formal noch gültigen Prisenordnung hatten U-Boote ein ziviles Schiff aufgetaucht zum Stoppen aufzufordern, mussten den Menschen an Bord dann Gelegenheit geben, die Rettungsboote zu besteigen, und durften erst dann feuern. Doch diese Regeln waren schon seit 1914 Makulatur, denn die Royal Navy hatte Handelsschiffe mit verdeckten Waffen ausgestattet und auch ausdrücklich getarnte U-Boot-Fallen, die „Q-Ships“ mit schwerer Bewaffnung, aufs Meer geschickt.
Zudem war auch die Seeblockade, die britische Kreuzerverbände in der nördlichen Nordsee und westlich des Ärmelkanals errichtet hatten, seerechtswidrig. Dort wurden alle Schiffe angehalten und kontrolliert, die einen nichtbritischen Zielhafen hatten. Dampfer, die nach Deutschland wollten, wurde an der Weiterfahrt gehindert. Die Folge war eine Verschärfung der ohnehin schon schlimmen Hungersnot in Deutschland, mit gerade im Steckrübenwinter 1916/17 mehreren Hunderttausend Toten an der deutschen Heimatfront.
Die rechtlichen Hürden vor einer Ausweitung des unbeschränkten U-Boot-Krieges waren also Anfang 1917 nicht mehr sehr hoch. Ganz anders allerdings die strategischen. Denn seit den schweren diplomatischen Verwerfungen, die der Versenkung des britischen Schnelldampfers „RMS Lusitania“ im Mai 1915 gefolgt waren, bei dem 128 Amerikaner ihr Leben verloren hatten, wusste man in der Reichsleitung, also der Regierung: Eine offizielle Ausweitung des U-Boot-Krieges würde höchstwahrscheinlich den Eintritt der USA in den Krieg aufseiten der Entente bedeuten.
Das wollte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg unbedingt vermeiden. Er wusste, dass sich beim Eintritt der bislang an Europas inneren Konflikten wenig interessierten Wirtschaftsmacht in den Krieg das Kräfteverhältnis entscheidend zuungunsten Deutschlands verändern würde. Unter anderem deshalb hatte er sein allerdings sehr ungeschicktes Friedensangebot von Dezember 1916 gemacht. Denn die Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und dessen eigentlichem Macher, Erich Ludendorff, drängte ebenso wie der Admiralstab auf eine „Entfesselung“ der deutschen U-Boot-Waffe.
Am 9. Januar 1917 traf der Kronrat unter Kaiser Wilhelm II. den entscheidenden Beschluss: Vom 1. Februar an sollte rund um Großbritannien sowie vor der französischen Atlantikküste und fast im gesamten Mittelmeer „jedem Seeverkehr ohne Weiteres und mit allen Waffen entgegengetreten“ werden. Ansprechpartner sollte vor allem US-Präsident Woodrow Wilson sein; seinem Außenminister überreichte der deutsche Botschafter in Washington am 31. Januar 1917 die entsprechende Note mit den Worten: „Es tut mir leid, aber meine Regierung konnte nicht anders handeln.“
Jedenfalls in Bezug auf den Reichskanzler war das schlicht unwahr. Bethmann Hollweg hatte nämlich kurz nach dem Beschluss des Kronrats einem Admiral seine Sorgen drastisch geschildert. Er „sah im Geiste sämtliche neutralen Völker vereint gegen uns, den tollen Hund unter den Völkern, aufstehen. Das sei dann Finis Germaniae“, also „Deutschlands Ende“.
Tatsächlich brachen die USA drei Tage nach der Note über den U-Boot-Krieg die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab; weitere zwei Monate später traten sie auf der Seite Großbritanniens und Frankreichs in den Weltkrieg ein. Doch das versprochene Ziel wurde nicht erreicht: Nur zweimal, im April und im Juni 1917, stiegen die Verluste an Frachtschiffraum über den Wert von 600.000 Bruttoregistertonnen. Der Admiralstab konnte seine vollmundige Versprechung nicht einhalten.
Der Militärhistoriker Joachim Schröder hat in seinem Buch „Die U-Boote des Kaisers“ dargelegt, dass der Gewinn durch die formale Ausweitung des U-Boot-Krieges relativ gering ausfiel: Nur um elf Prozent stieg die Wirksamkeit der Unterseeboote, was mehr an dem nun konzentrierteren Einsatz der Boote gegen die Handelsschifffahrt lag. Und selbst jetzt hielten sich viele U-Boot-Kommandanten an die tradierten Regeln der Prisenordnung, versenkten feindliche Schiffe also erst nach Warnung – laugt Schröder 40 Prozent aller attackierten britischen Handelsschiffe.
Der ausdrückliche Bruch des Seekriegsrechts durch Deutschland hatte ausschließlich Nachteile: Großbritannien konnte eben nicht in fünf Monaten niedergerungen werden, nicht einmal in eineinviertel Jahren. Im Sommer 1918 strömten dann Massen von US-Soldaten nach Europa.
Doch die Spitzen des deutschen Militärs und auch große Teile der Politik wie der Öffentlichkeit hielten den unbeschränkten U-Boot-Krieg für ein Patentrezept, um den Krieg zu gewinnen. Er führte mit mathematischer Gewissheit in die Niederlage.
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Dieser Artikel wurde erstmals 2017 veröffentlicht.