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Geschichte Rassismus

In der DDR gab es Neonazis. Sie lynchten Gastarbeiter

Obwohl offiziell „antifaschistisch“, grassierten in der DDR Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Ein Historiker fand Hunderte Angriffe und Tausende Opfer. Eine TV-Doku schürt jetzt die Debatte.
Leitender Redakteur Geschichte
Neonazis in Ost-Berlin; Foto der Stasi-Bezirksverwaltung Berlin Neonazis in Ost-Berlin; Foto der Stasi-Bezirksverwaltung Berlin
Neonazis in Ost-Berlin in den 1980er-Jahren zeigt dieses Foto der Stasi-Bezirksverwaltung
Quelle: BStU

Offiziell war die Berliner Mauer ein „antifaschistischer Schutzwall“. Fast drei Jahrzehnte lang behaupteten SED-Funktionäre, die Grenzbefestigungen hätten nicht die Flucht von DDR-Bürgern verhindern, sondern Neonazis, sonstige Faschisten und generell westliche Kriminelle aus dem Land heraushalten sollen.

Dabei war das gar nicht nötig, denn Rassisten, Antisemiten und andere Fremdenfeinde gab es zur Genüge in der DDR. Das beschreibt der Berliner Historiker Harry Waibel schon seit Jahren, doch erst jetzt hat ein Magazinbeitrag im MDR seinen Erkenntnissen breite Aufmerksamkeit verschafft und eine Debatte angestoßen.

In jahrelanger Archivforschung vor allem in der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) hat Waibel aus den 40 Jahren SED-Diktatur rund 8600 Propaganda- und Gewalttaten gegen echte und vermeintliche Fremde dokumentiert, meistens sogenannte Vertragsarbeiter aus sozialistischen Staaten in Afrika und Asien sowie aus Kuba, außerdem gegen Juden. Darunter waren, angesichts der Übergriffe auf Flüchtlinge und Asylbewerber in Ostdeutschland in der jüngeren Vergangenheit besonders brisant, auch rund 725 rassistisch motivierte Angriffe. Bei etwa 200 Anschlägen wurden Tausende Menschen aus 30 Ländern verletzt, mindestens zehn kamen ums Leben, einige von ihnen wurden geradezu gelyncht.

Forschungsverbund-Zeitschrift
Die neueste Ausgabe der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (39/2016)
Quelle: Forschungsverbund SED-Staat

In der jüngsten Ausgabe der „Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat“ an der Freien Universität Berlin, einer der wichtigsten Einrichtungen der Diktaturforschung, beschreibt Waibel drei Beispiele aus den 1970er- und 1980er-Jahren ausführlich. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Übergriffe der jüngeren Vergangenheit schließen nahtlos an eine brutale Tradition an. Der „Antifaschismus“, in der DDR die eigentliche Staatsideologie, hat Fremdenfeindlichkeit nicht nur nicht verhindert, sondern offenbar sogar gefördert.

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Der 70-jährige Waibel, der selbst nicht DDR-Bürger war, sondern aus Südbaden stammt, hat eine fast typische linke Biografie hinter sich. Er war Anti-AKW-Aktivist, studierte auf Lehramt, fuhr Taxi und engagierte sich in verschiedenen sozialistischen Gruppierungen in Freiburg. 1993 vollendete er seine Doktorarbeit – zum Rechtsextremismus, allerdings in der DDR.

Seither hat Waibel weitergeforscht und Bücher über den „gescheiterten Anti-Faschismus der SED“ und über Nazis in der DDR veröffentlicht. Allerdings wurden seine Arbeiten bisher nur Spezialisten bekannt. In der Öffentlichkeit dominierte weiter das Bild von der „antifaschistischen“ DDR, auch wenn es inzwischen mehrere Ausstellungen über fremdenfeindliche Übergriffe etwa von DDR-Hooligans und den teilweise staatlich geförderten Antisemitismus in der DDR gab.

Das könnte jetzt der Beitrag im MDR-Magazin „Exakt“ ändern. Zumal auf der Website des Senders auch eine eindrucksvolle interaktive Karte zu Waibels Erkenntnissen zu finden ist, auf der Hunderte Übergriffe mit den genauen Tatorten verzeichnet sind. So wird Fremdenfeindlichkeit greifbar.

Nicht jede Schlägerei unter jungen Männern muss gleich politisch sein. Wenn aber dunkelhäutige Menschen durch Straßen gejagt werden, ist das kein Kavaliersdelikt. „Rassistische Angriffe auf Wohnheime für Ausländer gab es in der DDR von 1975 an“, schreibt Waibel und fährt zu Recht über die Zeit bis 1990 fort: „In der Bundesrepublik ist bisher kein rassistischer Angriff eines Mobs auf Wohnungen von Ausländern belegt.“ Der einzige derartige Vorfall in Westdeutschland fand, schlimm genug, im Juni 1992 in Mannheim statt.

In der DDR dagegen fand der Historiker knapp 40 solche Attacken in den Akten der DDR-Staatssicherheit – von einem Vorfall in Erfurt am 13. August 1975 bis zum 26. August 1990, also mitten im Vereinigungsprozess, als etwa 30 Rassisten ein Wohnheim für Mosambiquaner in Trebbin bei Potsdam angriffen.

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„Insofern muss die Aussage korrigiert werden“, schreibt Waibel, „dass die Angriffe auf ein Wohnheim für Ausländer in Hoyerswerda 1991 die ersten Pogrome in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg waren.“ Die fürchterlichen Szenen in der Plattenbausiedlung in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 war eben gerade nicht neu für Ostdeutschland.

Natürlich hat es fremdenfeindlich und neonazistisch motivierte Übergriffe auch in der alten Bundesrepublik gegeben – allerdings in einem statistisch deutlich geringeren Ausmaß. Man darf also die Ursachen für solche Gewalttaten nicht allein in DDR-spezifischen Bedingungen suchen, muss sie aber auch einbeziehen.

Das tut Waibel mit deutlicher Klarheit: „Eine gewichtige Ursache war die Züchtung eines völkischen Nationalismus, der in Verbindung einer martialischen ,Erziehung zum Hass’ auf Fremde und Ausländer zu enormen rassistischen Exzessen geführt hat, wo Begriffe wie ,Schieber’ oder ,Spekulanten’ zum Ausdruck der Stigmatisierung der Ausländer als ,Kriminelle’ wurden.“

In einem von offizieller Seite so geprägten Umfeld konnten sich rassistische Mobs entwickeln, die sogar Lynchmorde beklatschten. Etwa in Merseburg 1979: Eine Auseinandersetzung zwischen Kubanern und DDR-Bürgern wuchs sich erst zu einer Saalschlacht aus, dann wurden zwei flüchtende Vertragsarbeiter aus der Karibik beim Durchschwimmen der Saale von einer Brücke aus mit Ziegelsteinen und Flaschen gezielt beworfen und getötet.

Zu den Absurditäten, die Waibel aufgedeckt hat, gehört, dass in Spergau südlich von Merseburg (Sachsen-Anhalt) 1976 eine Schülerin sogar eine Unterschriftensammlung organisierte, um gegen Algerier in einem Wohnheim zu protestieren und sie ausweisen zu lassen. 117 Unterschriften kamen zusammen, bevor die Schulleitung die Liste beschlagnahmte. Die SED-Kreisleitung behandelte diese fremdenfeindliche Aktion als normale Eingabe.

Seit der deutschen Einheit ist die Zahl fremdenfeindlicher Übergriffe in Deutschland stark gewachsen, etwa auf das Zehnfache. Weit überrepräsentiert sind dabei die Täter aus den inzwischen auch schon ein Vierteljahrhundert alten „neuen Bundesländern“, nämlich dreimal so häufig wie eigentlich statistisch anzunehmen.

Die historischen Ergebnisse von Harry Waibel erklären die aktuelle Fremdenfeindlichkeit und das Anwachsen rechtspopulistischer bis rechtsextremer Gruppierungen natürlich nicht allein oder vollständig. Aber sie zeigen: Nur wer die Realität in der DDR einbezieht, hat eine Chance, die Situation zu entspannen. Die DDR brauchte keinen „antifaschistischen Schutzwall“, denn neonazistisches und rassistisches Denken gab es vor Ort mehr als genug.

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