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Geschichte Notaufnahmelager

Erster Wohnort für 1,35 Millionen DDR-Flüchtlinge

Im April 1953 wurde das zentrale Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde eröffnet. Zunächst für DDR-Bewohner gedacht, dient es heute Asylbewerbern. Zum Jubiläum hat sich Joachim Gauck angesagt.
Hoher Besuch: Obwohl das Notaufnahmelager Marienfelde noch ein Rohbau war, sprach Bundespräsident Theodor Heuss am 14. April 1953 zur offiziellen Einweihung Hoher Besuch: Obwohl das Notaufnahmelager Marienfelde noch ein Rohbau war, sprach Bundespräsident Theodor Heuss am 14. April 1953 zur offiziellen Einweihung
Hoher Besuch: Obwohl das Notaufnahmelager Marienfelde noch ein Rohbau war, sprach Bundespräsident Theodor Heuss am 14. April 1953 zur offiziellen Einweihung
Quelle: picture alliance / akg-images

Komfort ist relativ. Wenn sich bis zu vier Erwachsene einen Raum von gerade 15 Quadratmetern teilen müssen, hat jeder einzelne wahrlich wenig Platz für sich. Dennoch ist ein solches Quartier wesentlich besser als eine schmale Pritsche in riesigen Schlafsälen oder ein Platz in Reihen von Doppelstockbetten in zugigen Baracken.

Komfortabel konnte und sollte das Zentrale Notaufnahmelager in Marienfelde nie sein. Sehr wohl aber menschenwürdig. Am 14. April 1953 eröffnete der erste Bundespräsident Theodor Heuss die Anlage offiziell, auch wenn sie zu großen Teilen noch Rohbau war; erst im August nahm das Lager den Betrieb tatsächlich auf. Auf den Tag genau 60 Jahre nach der Einweihung wird der gegenwärtige, elfte Bundespräsident Joachim Gauck mit einer Ansprache diese inzwischen fast vergessene Institution würdigen.

Zum Festakt 1953 hatten Senat und Bezirke tausende Flüchtlinge mit Bussen zur Baustelle bringen lassen, aus Dutzenden sehr provisorischer Lager in ganz West-Berlin. Es war das erste und einzige Mal, dass Menschen staatlich organisiert zum Notaufnahmelager transportiert wurden. In den Jahrzehnten seither waren es Bedrängung, Angst vor Repressalien und die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben, die Hunderttausende an die Marienfelder Allee 66-80 strömen ließen. Zur Adresse der Freiheit.

Bescheiden, aber menschenwürdig

„Der Westen Deutschlands ruft nicht. Das könnte er nicht verantworten, deutsches Land um deutsche Menschen ärmer machen zu wollen“, hatte Heuss in einer Ansprache zur Eröffnung gesagt: „Der Westen Deutschlands wehrt sich aber auch nicht.“ Eine bescheidene, aber menschenwürdige Unterkunft für entwurzelte Landsleute – das sollte Marienfelde sein. Auf knapp vier Quadratmetern pro Person.

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Heuss wusste genauso gut wie die West-Berliner Politiker, dass die allermeisten Neuankömmlinge sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht hatten. Immerhin mussten sie meist Besitz, Freunde, Heimat aufgeben, um dem Druck des SED-Regimes zu entkommen. Der Entschluss zur Flucht war oft monate-, manchmal jahrelang gereift.

Seit der Schließung der innerdeutschen Grenze im Mai 1952 konzentrierte sich die Fluchtbewegung fast vollständig auf Berlin. Genauer: auf die innerstädtische Demarkationslinie zwischen dem sowjetischen und den drei westlichen Sektoren. Aus weltpolitischen Gründen war diese Grenze noch offen, wenn auch vielfach von der DDR-Polizei kontrolliert. Wer mit auffallend viel Gepäck von Ost- nach West-Berlin unterwegs war oder unter Schmuggelverdacht stand, bekam oft Probleme. Wer so tat, als gehe es um einen alltäglichen Weg, kam in der Regel ungehindert durch.

Bis zur Inbetriebnahme des Aufnahmelagers in Marienfelde hatte es in West-Berlin Dutzende Anlaufstellen gegeben: die improvisierten Notunterkünfte, außerdem Polizeireviere, Geschäftsstellen von Gewerkschaften, Parteien und DDR-kritischen Organisationen wie dem Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen oder schlicht Bekannte und Verwandte im freien Teil Berlins. Doch seit dem Massenansturm nach der Schließung der innerdeutschen Grenze waren all diese Einrichtungen hoffnungslos überfordert. Die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen musste dringend neu geregelt werden.

Genug Probleme auch ohne Flüchtlinge

Die drei westlichen Sektoren der Stadt hatten nämlich auch ohne Flüchtlinge genügend Probleme. Die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Fürsorgeempfänger lag hier viermal so hoch wie in Westdeutschland. Dort hatte das Wirtschaftswunder im Frühjahr 1953 Fahrt aufgenommen, lag die Wirtschaftsleistung schon bedeutend über dem Vorkriegsniveau; in West-Berlin dagegen bei gerade gut der Hälfte.

Jedoch konnten Flüchtlinge einigermaßen gefahrlos nur über das Schlupfloch Berlin die DDR noch verlassen. Nach längeren Bemühungen hatten das im Sommer 1952 auch die Bundesländer und sogar das Finanzministerium im fernen Bonn eingesehen: Der Senat bekam Geld aus verschiedenen Töpfen, insgesamt knapp fünf Millionen Mark, um ein zentrales Aufnahmelager zu errichten. Die Zeit drängte: Schon im Frühjahr 1953 sollte der Neubau in Betrieb gehen.

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Man dachte vorausschauend: Die DDR werde ohnehin nicht mehr lange existieren, die Wiedervereinigung stehe in naher Zukunft bevor – bald würde man also kein Notaufnahmelager mehr brauchen. Deshalb plante die Senatsbauverwaltung eine ganz normale Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, mit 220 Zweieinhalb-, zwölf Dreizimmer- und 48 Einzimmerwohnungen.

Nur solange der Flüchtlingsstrom anhielt, sollten statt 280 normaler Familien bis zu 2500 Menschen hier untergebracht werden. Daraus ist nichts geworden, denn das Aufnahmelager Marienfelde ist bis heute in Betrieb. Nach den letzten DDR-Bürgern 1989/90 kamen unter anderem Aussiedler aus Osteuropa, Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber. Für sie alle ist die Marienfelder Allee noch immer erste Anlaufstelle in Berlin.

Kompliziertes Verfahren

Zu den wichtigsten Aufgaben der neuen, zentralen Institution gehörte schon vor 60 Jahren, ein geregeltes Notaufnahmeverfahren zu ermöglichen. Seit Februar 1952 galt in West-Berlin das entsprechende Bundesgesetz; Flüchtlinge, die nach dem vorher gültigen, speziellen West-Berliner Gesetz anerkannt worden waren, hatten nämlich keine Chance gehabt, in den Ländern der Bundesrepublik aufgenommen zu werden. Ohne gültige Papiere saßen sie jedoch im westlichen Teil der gespaltenen Stadt fest.

Erst mit der formellen Übernahme des Bundesgesetzes änderte sich das – nun waren die Bundesländer verpflichtet, anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen. Sprunghaft waren seitdem die Zahlen der ausgeflogenen ehemaligen DDR-Bürger angestiegen. Ironischerweise war das Bundesnotaufnahmegesetz deutlich weniger streng als die vorherige West-Berliner Regelung.

Die Aufnahmeprozedur blieb dennoch bürokratisch kompliziert: Zwölf Stationen musste jeder Neuankömmling absolvieren, um den Status eines anerkannten Flüchtlings aus der DDR zu bekommen und die damit verbundenen Unterstützungen – Sozialleistungen, die Zuweisung einer Wohnung, eine Arbeitserlaubnis oder gleich ein Ticket, um sich vom Flughafen Tempelhof mit westalliierten Maschinen in die Bundesrepublik ausfliegen zu lassen.

Am Anfang stand die Anmeldung, die gar nicht eigens gezählt wurde und bei der jede Neuankömmling einen Laufzettel mit seinen persönlichen Daten bekam. Für ein erfolgreiches Verfahren brauchte man darauf zwölf Stempel. Den ersten erteilte der Ärztliche Dienst nach einer schnellen medizinische Untersuchung: Um Seuchen in den engen Übergangsquartieren vorzubeugen, wurden alle Neuankömmlinge begutachtet. Stellten die Amtsärzte ansteckende Krankheiten fest, folgte umgehend die Einweisung in ein Krankenhaus. Meist aber war das nicht nötig, trotz der schlechten Nahrungsversorgung in der DDR, wo immer noch Lebensmittelrationierung galt. Mit dem ersten Stempel auf dem Laufzettel warteten die Flüchtlinge dann.

Die Rolle der Geheimdienste

Die zweite Station lässt das Notaufnahmeverfahren manchen heute suspekt erscheinen. Denn bevor irgendwelche weiteren Maßnahmen stattfanden, mussten sich alle Antragsteller von den „Alliierten Sichtungsstellen“ befragen lassen – nacheinander von Amerikanern, Briten und Franzosen Die meisten Unterlagen dieser Geheimdienstfilialen sind entweder zerstört oder liegen bis heute unter Verschluss. Aus Berichten von Zeitzeugen allerdings, die das Verfahren durchliefen, kann man gut rekonstruieren, worum es hier ging.

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So wurden männliche Neuankömmlinge regelmäßig nach Erfahrungen bei ostdeutschen Sicherheitsorganen befragt, der Volks- und Transportpolizei, der paramilitärischen Kasernierten Volkspolizei und ab 1956 der Nationalen Volksarmee. Wer in der Nähe von sowjetischen Stützpunkten gewohnt hatte, sollte über Beobachtungen Auskunft geben. Die Geheimdienstler wollten auch wissen, wer familiäre oder freundschaftliche Kontakte zu SED-Funktionären und Stasi-Kadern hatte. Ganz wichtig waren Erfahrungen aus der DDR-Wirtschaft, besonders gern von geflüchteten Sekretärinnen.

Wenn die Antworten darauf hindeuteten, dass eine ausführliche Vernehmung sinnvoll sein könnte, wurden die Neuankömmlinge in eines der drei westalliierten Hauptquartiere in Zehlendorf, Charlottenburg oder Reinickendorf verlegt. Zwar hing die Anerkennung als politischer Flüchtling nicht ab von der Zustimmung der westlichen Sichtungsstellen – wer aber negativ auffiel, dessen Chancen sanken.

Die hier erhobenen Auskünfte gehörten zu den wichtigsten Informationen, mit deren Hilfe alliierte Geheimdienste ihr Wissen über die SED-Diktatur ausbauten. Was genau die CIA, der MI6 und andere Dienste damit weiter taten, ist unbekannt. Gewiss wurden sie bei Geheimoperationen in der DDR genutzt. Außerdem eigneten sich Geheimdienstler mitunter die Biografien von Flüchtlingen und ihre ostdeutsche Papiere an, um Agenten unter falschen Identitäten einzuschleusen. Ein Massenphänomen war das aber nicht.

Bürokratischer Standard

Die folgenden Stationen folgten einem üblichen bürokratischen Schema: Überprüfung der deutschen Staatsangehörigkeit, Ausgabe von Verpflegungsgutscheinen und polizeiliche Anmeldung. Den Kern des Aufnahmeverfahrens machten dann zwei „Vorprüfungen“ durch Beamte und Vertreter DDR-kritischer Institutionen wie dem Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen sowie durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst aus. Hier wurde überprüft, ob die Schilderungen der Neuankömmlinge vertrauenswürdig waren; gegebenenfalls wurden diskret über Kontaktleute in der DDR Erkundigungen eingezogen. So wollte man Wichtigtuer, Wirtschaftsflüchtlinge und vor allem Stasi-Agenten herausfiltern. Da die entsprechenden Unterlagen bis heute ausnahmslos unzugänglich ist, kann niemand sagen, wie erfolgreich dieses Prozedere war.

Nach all diesen Befragungen folgte ein Termin vor dem dreiköpfigen Aufnahmeausschuss. Hier musste jeder Flüchtling darlegen, warum er die DDR verlassen hatte. Vom Votum dieser Ausschüsse oder – im Falle einer Ablehnung – des Berufungsausschusses hing ab, ob man den Status eines anerkannten Flüchtlings erhielt und damit die volle soziale Unterstützung. Die Anerkennungsquoten schwankten stark: In manchen Monaten der frühen 50er-Jahre wies die Statistik zehn Prozent Ablehnung aus, in anderen bis zu 42,5 Prozent.

Die Gründe lagen wohl im starken Zuwachs der Neuankömmlinge: 1953 kamen zweieinhalbmal so viele Flüchtlinge wie 1952. Wer nicht anerkannt wurde, lebte fortan ohne Anmeldung und Arbeitserlaubnis in Berlin, angewiesen auf die schmale Fürsorge, mit denen die Bezirke Bedürftige unterstützten; einen Rechtsanspruch auf Leistungen wie Hartz IV gab es seinerzeit nicht. Die anerkannten Flüchtlinge jedoch kamen nach einige weiteren Stationen schließlich zur Transportstelle, die ihnen Tickets für eine Maschine in die Bundesrepublik verschaffte; für die meisten war es der erste Flug ihres Lebens.

Dieses komplizierte Verfahren systematisch und weitgehend an einem Ort zu gewährleisten, war die formale Hauptaufgabe des neuen Notaufnahmelagers. Die alliierten Sichtungsstellen residierten sogar in einem speziellen Block, der hermetisch von den anderen Teilen des Notaufnahmelagers getrennt war. Die originale Stahltür zu diesem Gebäudeteil gibt es noch heute.

Vor allem psychologisch wichtig

Psychologisch wichtiger war jedoch etwas anderes: Mit Marienfelde verfügte West-Berlin über eine zentrale Anlaufstelle für alle DDR-Flüchtlinge. Bald nach Theodor Heuss etwas vorzeitiger Eröffnungsrede hatte sich in Ostdeutschland herumgesprochen, wohin man sich nach einer Flucht wenden konnte. Das senkte die Hemmschwelle, die Heimat zu verlassen.

Deshalb gehörte das Notaufnahmelager Marienfelde bis 1989 zu den wichtigsten Zielen der DDR-Staatssicherheit in West-Berlin. Mehrfach gelang es dem SED-Geheimdienst, Agenten hier an herausgehobenen Stellen zu platzieren. Außerdem fotografierte man die Mitarbeiter des Lagers heimlich, ebenso die Wachleute. Von mutmaßlichen Angehörigen der Sichtungsstellen wurden Phantombilder gezeichnet.

Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 nahm die Zahl der Flüchtlinge stark ab. Statt mehrerer hundert, manchmal über tausend Menschen pro Tag kamen nun nur noch einige Dutzend, manchmal noch weniger. Damit reichte nun die Größe der Wohnblocks als Übergangslager. Seit der Einheit Deutschlands 1990 gilt für alle Deutschen Freizügigkeit; ein Aufnahmeverfahren ist überflüssig. Das Aufnahmelager Marienfelde ist dennoch voll: Menschen aus vielen Regionen der Erde wohnen hier, während ihre Asylanträge bearbeitet werden. Unter nicht komfortablen, aber menschenwürdigen Bedingungen.

Nach nur vier Monaten Bauzeit schon das Richtfest: Der Druck, in West-Berlin ein zentrales Notaufnahmelager einzurichten, war 1952 enorm. In Betrieb ging das Lager mit 2500 Plätzen gut ein Jahr nach Baubeginn
Nach nur vier Monaten Bauzeit schon das Richtfest: Der Druck, in West-Berlin ein zentrales Notaufnahmelager einzurichten, war 1952 enorm. In Betrieb ging das Lager mit 2500 Plätzen... gut ein Jahr nach Baubeginn
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