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Geschichte Mauerbau

Die unglaubliche Flucht der jungen Annelie

Als Annelie Braun vor 50 Jahren aus der DDR flüchtete, kannte sie den Weg ganz genau. Weil ein Grenzer in sie verliebt war. Er zeichnete Pläne, öffnete Tore – und enttäuschte sie am Ende doch.

Die 17-Jährige wirft sich neben das Eisenbahngleis auf die Erde. Sie presst ihr Gesicht auf den Boden, streckt die Füße aus, wagt kaum zu atmen. Die Dunkelheit verschluckt Annelie Brauns weinroten Armeetrainingsanzug fast vollständig. Es sind minus 22 Grad, aber die Eiseskälte spürt sie nicht. Sie hat Angst. Nur noch zwei Zäune ist sie entfernt, die Freiheit. Der Westen.

Annelie Braun kann sich an jedes Detail ihrer Flucht aus der DDR vor 50 Jahren in der Nacht am 13. Dezember 1962 erinnern. „Ich bekomme immer noch Herzklopfen, wenn ich daran denke“, sagt sie. Heute ist sie 67 und lebt in der Nähe von Freiburg.

Dass Braun als junge Frau raus aus der DDR will, hat nichts mit Politik zu tun. „Ich habe mich in meiner Familie ungeliebt gefühlt, mein Stiefvater hat mich verprügelt“, erzählt sie. Damals hieß sie noch Annelie Bergmann. Sie wächst in Sachsen auf. Ihr Freund Rainer Genuttis ist Hundeführer im Berliner Grenzabschnitt. Sie sieht ihn nur, wenn er Heimaturlaub hat. Genuttis macht den Sozialismus dafür verantwortlich, dass seine Mutter jahrelang in Sibirien Zwangsarbeit leisten musste. „Rainer ist ein Individualist, ihm hat das DDR-Regime von Anfang an nicht gepasst“, sagt Braun.

„Dann hauen wir eben ab“

Im Spätsommer 1962 beschließt Genuttis: „Annelie, dann hauen wir eben ab.“ Ende November lässt Braun sich krankschreiben und reist zu ihrem Freund nach Berlin. Zwei Wochen plant er für die Vorbereitungen auf die Flucht ein. Zwei Wochen, in denen er Braun genau aufzeichnet, wie sie über das Bahngelände an der Bornholmer Straße nach West-Berlin in den Französischen Sektor laufen soll. Zwei Wochen, in denen er Armeekleidung für sie besorgt, mit ihr trainiert, wie sie geräuschlos über Schotter läuft und wie sie leise Eisentore öffnet.

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Und: zwei Wochen Zeit für die Verlobung. Als das Paar in einem Café sitzt und Kuchen isst, holt Genuttis ein kleines Kästchen mit zwei Goldringen hervor. „Wir müssen als Verlobte auftreten“, erklärt er seiner Freundin. „Sonst kommst du nach der Flucht in ein Mädchenheim, weil du noch jugendlich bist.“

Am Tag der Flucht hat Genuttis Dienst an der Grenze. Annelie Braun zieht um zwei Uhr nachts los. „Ich habe drei Schlüpfer angezogen, eine Flanellunterhose, eine lange Herrenwinterhose, zwei Hemden und einen Armeetrainingsanzug. Der war stabil wie Zeltstoff, innen aber flauschig“, erinnert sie sich.

Ein Hund schlägt Alarm

Sie läuft zum Bahngelände an der Bornholmer Straße, dreht sich nach Grenzern um, fühlt sich unbeobachtet und klettert über einen Holzzaun. Nur wenige Wochen zuvor wurde an dem Grenzübergang ein Flüchtling erschossen. Braun läuft eine Böschung hinunter zum Gleisbett. Von hier aus gibt es nur drei Wege: in den Westen, ins Gefängnis oder in den Tod.

Kaum setzt sie einen Fuß auf das Bahngelände, hört sie Hundegebell. Ist die Flucht schon vorbei? Doch der Hund kläfft nicht wegen ihr, glauben zumindest die Grenzer. „Das war Rainers Schäferhündin Zera. Die war trächtig und hat permanent gebellt. Vielleicht hat sie mir dadurch mein Leben gerettet“, sagt Braun.

Auf einem Schotterweg schleicht Braun am Gleis entlang unter die Bösebrücke. „Wie Rainer es mir beigebracht hat: mit der Ferse fest in den Schotter treten und abrollen.“ Sie kauert sich hinter einen Brückenpfeiler und wartet ab.

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Auf der Brücke über sich hört sie Grenzer auf und ab laufen, schräg gegenüber bewachen weitere Soldaten die Grenze an einem Stellwärterhaus. „Ich hab gedacht: Was mach ich bloß hier? Mir war richtig schlecht.“ Braun muss weiter warten. Auf einen Zug, der die Blicke der Grenzposten auf sie versperren soll. Als die Bahn kommt, rennt sie los. 20 Meter weiter am Gleis entlang hinter einen Geräteschuppen.

Genuttis blinkt mit der Taschenlampe

Sie lugt hinter dem Geräteschuppen hervor und sieht ihren Verlobten mit einem weiteren Grenzer vor einem Schrankenwärterhäuschen schräg von ihr auf einer Anhöhe stehen. Jetzt geht der Plan schief: „Rainer hatte unter seinem Mantel eine kleine Taschenlampe. Wir haben verabredet, dass er bei Gefahr rot blinkt – und grün, wenn ich weitergehen kann“, sagt Braun.

Der Grenzer blinkt rot. Doch Braun hält das Licht für grün. Und läuft los. Ob Genuttis den falschen Knopf an der Taschenlampe betätigt oder ob Braun in ihrer Aufregung statt rotem grünes Licht sieht – darüber wird sich das Paar auch nach der Flucht nie einig.

Die 17-Jährige schiebt ein Tor auf, das ihr Verlobter zuvor entriegelt hatte. Sie zwängt sich durch und schließt es wieder. „Ein geöffnetes Tor wäre den Grenzern sofort aufgefallen.“ Sie schreitet über das erste Gleis, öffnet das nächste Tor, steht auf dem zweiten Gleis – und merkt, dass sie einen Fehler gemacht hat.

„Ich hab gedacht, ich verrecke da“

„Plötzlich standen an dem Häuschen auf der anderen Seite vom Zaun vier Soldaten“, sagt Braun. Die übliche Kontrolle ist gekommen. „In diesem Moment sagt dir der Instinkt, was du machen musst, damit du überlebst.“ Die 17-Jährige wirft sich flach auf den Boden, rührt sich nicht einen Zentimeter. „Ich hab gedacht, ich verrecke da.“

Genuttis muss mit ansehen, wie seine Verlobte in Lebensgefahr schwebt und zwischen Schiene und Zaun auf dem Boden liegt. Doch die Grenzer bemerken die Flüchtige nicht. Braun hebt sich von der Landschaft kaum ab. Die Hündin schlägt zwar an, aber die Soldaten schieben das auf ihre Umstände. „Wenn die anderen Grenzer dich bemerkt hätten, hätte ich alle erschossen“, sagt Genuttis seiner Freundin später.

Als die Kontrolleinheiten davongehen, bringt der Grenzer unter einem Vorwand seinen Kollegen dazu, die Position am Schrankenwärterhäuschen zu verlassen. Braun ergreift die Gelegenheit. „Ich bin aufgesprungen, habe das nächste Schiebetor geöffnet und geschlossen und bin hinter dem Häuschen vorbei zu einem weiteren Tor gelaufen.“

Von draußen hört sie Rock ‘n‘ Roll

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Das ist mit einer Eisenkette gesichert, die Genuttis vorher aufgeschlossen hatte. Braun öffnet das Tor, läuft wieder über Schotter und das letzte Gleis. Dann kommt sie zu einem verrotteten Geräteschuppen und einem zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun. Das letzte Hindernis. „Ich stand davor wie vor einem Felsen“, sagt Braun.

Wieder hat sie Glück: „Der Maschendraht war mit einem Brett an dem Schuppen befestigt.“ Dieses Brett ist so locker, dass sie es mühelos vom Schuppen lösen kann. Sie zwängt sich an dem Stacheldraht vorbei hinter den Schuppen. „Ich habe meine Hände in den Zaun geklemmt und bin hochgekraxelt“, erzählt Braun. Sie lässt sich auf die andere Seite runterfallen und landet auf einem Fußweg. Jetzt ist sie drüben. Im Westen.

Braun läuft nur ein paar Schritte, dann stößt sie auf ein kleines Häuschen. „Ich hab schon von draußen Rock-’n’-Roll-Musik gehört“, sagt sie. Die Musik wird leiser gestellt, ein westlicher Grenzer kommt raus. „Ick werd verrückt, wo komm’ Sie’n her?“, fragt er Braun. Wirklich überrascht ist er aber nicht. „Der hat den Hund bellen gehört und sich schon gedacht, dass da jemand kommt“, sagt Braun.

Auch der Verlobte kann fliehen

Dann muss sie auf ihren Verlobten warten. „Das war die schlimmste halbe Stunde meines Lebens“, sagt sie. Endlich kommt er die Böschung hochgelaufen. Braun läuft ihm entgegen und fällt ihm in die Arme. Genuttis hatte seinen Kollegen überredet, sich im Schrankenwärterhäuschen aufzuwärmen – und nutzte die Gelegenheit zur Flucht auf dem gleichen Weg wie seine Verlobte.

Westdeutsche Grenzer bringen Braun und Genuttis zunächst zur Polizeistation, anschließend in das Notaufnahmelager Marienfelde. In Westberlin bleibt das Paar nur wenige Tage, eine kleine amerikanische Militärmaschine fliegt sie und andere Flüchtlinge nach Frankfurt. „Dann wurden wir nach Oberursel gebracht“, sagt Braun. Ins Camp King, einen amerikanischen Militärstützpunkt.

Ihre Familie hat Braun in Sachsen zurückgelassen. Zu dem Zeitpunkt ist ihre Halbschwester Elke Arnold 13 Jahre alt. „Leute von der Stasi haben uns erzählt, dass Annelie geflüchtet ist“, sagt sie. „Wir waren alle überrascht. Und traurig. Keiner von uns hatte etwas geahnt.“ Erst viele Monate später erhält die Familie Nachrichten von Braun, die Stasi hatte ihre Briefe abgefangen.

Immer wieder kommen die Albträume

Die ersten Monate im Westen verlaufen anders, als Braun sich vorgestellt hat. Sechs Wochen lang müssen sie und Genuttis in dem amerikanischen Militärstützpunkt bleiben und den Agenten Tag für Tag stundenlang immer die gleichen Fragen beantworten.

Was kann man in der DDR kaufen? Was guckt ihr für ein Fernsehprogramm? Was lernt ihr in der Schule? Welche Autos fahren bei euch? „Für mich junges Ding war das alles sehr verstörend“, sagt Braun. Dann die Albträume. Jede Nacht schreckt sie aus dem gleichen Traum hoch: „Immer wieder erlebe ich meine Flucht. Und immer entdecken mich die Grenzer und schießen.“

Endlich dürfen Braun und Genuttis in die Freiheit. Eine Tante in der Nähe von Duisburg nimmt sie auf. Sie bauen sich ihr eigenes Leben auf, fangen an, in einer Kleidungsfabrik zu arbeiten, später in einer Lebensmittelfabrik. Sie heiraten und bekommen zwei Söhne, ziehen nach Oberbayern. Braun pflegt alte Menschen, Genuttis ist als Feinmechaniker in Kalkstickstoffwerken tätig.

Auswandern nach Australien

Dann beginnt ihr drittes Leben: in Australien. Als Familie Genuttis 1982 auswandert, ist Sohn Ralf 13. Weder er noch sein Bruder oder seine Mutter wollen Deutschland verlassen. „Vater hat das nicht mit uns abgesprochen, sondern einfach so entschieden. Dementsprechend beschissen war die Stimmung bei uns.“ Als Grund für die Auswanderung vermutet er Eheprobleme: „Für meine Eltern war das der Versuch, einen Neustart zu machen.“

Der Versuch scheitert. Das Leben in Australien schweißt Annelie und Rainer Genuttis nicht enger zusammen. Im Gegenteil. „Als Vater eines Tages sagte, dass er in die Muckibude geht, dann aber stundenlang wegblieb, habe ich da angerufen“, erzählt Ralf Genuttis.

Das Fitnessstudio hatte längst geschlossen. „Mutter wusste, glaube ich, schon, was da los war.“ Sie zieht aus, lässt sich scheiden, zieht später zurück nach Deutschland und heiratet 2003 ein zweites Mal. Seitdem heißt sie Braun. Rainer Genuttis lebt heute noch in Sydney, hat die Flucht aber verdrängt und spricht nicht mehr über seine Vergangenheit in der DDR.

Erst als die Mauer in Berlin fällt, erzählt Braun ihrem Sohn ihre ganze Geschichte. „Davor hat sie nur gesagt: ‚Bin halt über die Mauer‘“, sagt Ralf Genuttis. Fast drei Stunden lang berichtet Braun ihrem Sohn von der Flucht. „Ich hab nur gedacht: Boah, das hat die Mama mitgemacht“, sagt Ralf Genuttis. „Ich bin richtig stolz auf sie. An dieses Gespräch werde ich mich mein ganzes Leben lang erinnern.“

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