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Europas Ordnung nach Versailles

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Der Friedensvertrag von Versailles führte in die Misere. Vor allem, weil es ihm nicht gelang, eine neue Wirtschaftsordnung zu entwerfen. Nach dem 2. Weltkrieg machte man es besser.

Heute kann über Versailles gesprochen und gestritten werden, ohne dass das Erregungsthermometer gleich nach oben schnellt. Wer in Deutschland den Vertrag von Versailles, der heute vor 90 Jahren unterzeichnet wurde, für ein Unglück hält, gerät nicht mehr in den Verdacht, Revanchegedanken zu hegen. Das ist ein großer Fortschritt. Denn es ist noch nicht allzu lange her, dass hier zu Lande dieser missratene Vertrag regelmäßig zum Anlass genommen wurde, nationalistischen Groll gegen die Nachbarstaaten zu hegen und die barbarische Herrschaft der Nazis wenn nicht zu entschulden, so doch zu relativieren – nach dem Muster: Wer solche Verträge macht und den Deutschen aufzwingt, der darf sich nicht wundern, wenn diese mit Wucht zurückschlagen.

Der Friedensvertrag von Versailles, der wichtigste der Pariser Vorortverträge, war ein schlechter Vertrag. Doch wer zu Recht so urteilt, der muss auch bedenken, dass die beratenden Politiker eine Aufgabe zu bewältigen hatten, die bisher einmalig war, für die es keinerlei Vorbild gab. Den Friedensverhandlungen war nicht irgend ein Krieg, sondern ein Weltkrieg vorausgegangen – der erste Krieg der Geschichte, der total war, in dem auf fast allen Seiten mächtige Propagandamaschinen jahrelang Hass säten, der mit einer bisher unvorstellbaren Zerstörung endete und der wie kein Krieg zuvor die Seelen der Menschen beschädigt hatte.

Der Versailler Vertrag war ein schlechter Vertrag

Die nun in Paris (kein kluger Schachzug: unter Ausschluss des unterlegenen Deutschlands) zusammen saßen, mussten nicht bi- oder trilateral verhandeln, sondern standen vor keiner geringeren Herausforderung als der, erstmals eine neue Weltordnung zu entwerfen, mussten also multilateral und mit zahllosen Unbekannten operieren. Es gab keine Vorbilder, denen sie hätten folgen können. Und schließlich verfolgten die Siegermächte höchst unterschiedliche Interessen. Am extremsten lagen die Positionen Frankreichs und der USA auseinander. Während Frankreich, am Ort der Proklamation des Deutschen Reiches 1871, Deutschland so weit als möglich wirtschaftlich schwächen und auch Rache nehmen wollte für die Schmach dieser Niederlage und für die Verwüstungen, die die Deutsche Wehrmacht Frankreich zugefügt hatte, traten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal überhaupt mit Nachdruck auf dem Alten Kontinent auf. Ihr Präsident Woodrow Wilson, ein ehemaliger Princeton-Professor, ist oft als idealistischer und deswegen gefährlicher Idealist verspottet worden, der sich angemaßt habe, aus eigener Machtvollkommenheit eine neue, gerechte Weltordnung entwerfen zu wollen. Wilson war ein Idealist, aber er verkörperte zugleich im guten Sinne die amerikanische Philosophie der Freiheit und der Selbstbestimmung.

Tatsächlich haben beide Staaten, Frankreich und die USA, Ergebnisse erzielt, die ein beträchtliches Blockade- und Zerstörungspotential enthielten. Die Schwächung Deutschlands, die Frankreich durchsetzte, legte mit den Keim für ein Wachsen des nationalistischen, schließlich nationalsozialistisch radikalisierten Grolls und Hasses. Und Amerikas Entscheidung, das Selbstbestimmungsrecht der Völker ganz vorne auf die politische Agenda zu setzen, bewirkte im Laufe das Gegenteil des Gewünschten: Es brach kein friedliches Zeitalter fröhlicher Selbstbestimmung an. Vielmehr erlebte der nationalistische Furor, der seit dem 19. Jahrhundert oft genug hinter den nationalen Erhebungen stand, neuen und schrecklichen Auftrieb. Der Wunsch nach Frieden hatte Unfrieden gesät.

Stillstand, nicht Entwicklung war das Ziel

Wichtiger noch war vielleicht ein anderes Versäumnis. André Tardieu, Mitarbeiter des an den Versailler Verhandlungen beteiligten französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, hatte die Ziele so definiert: „Sicherheit zu schaffen war die erste Pflicht. Den Wiederaufbau zu fördern die zweite.“ Darin ist ganze Misere von Versailles enthalten. Der Friedensvertrag war, trotz seiner für Deutschland sehr offensiven Härten, ganz defensiv. Er wollte die Kontrahenten auf Distanz halten, er wollte, so gesehen, nicht Entwicklung, sondern Stillstand. Und diejenigen, die ihn aushandelten, waren zum größten Teil ohne Ahnung davon, was es für Europa und Welt bedeuten würde, wenn man den großen Wirtschaftsmotor Europas, der im Ersten Weltkrieg schon schwer beschädigt worden war, nicht wieder mit aller Kraft anwerfen, sondern zum Stottern und Stillstand verurteilen würde.

Das Europa vor 1914 war ein blühender, wenn auch konfliktreicher und von sozialen Verwerfungen gezeichneter Kontinent gewesen. Welches Gefühl des Voranstürmens und Fortschrittsglück damals sehr viele Menschen beflügelte, hat Stefan Zweig in seinen Erinnerungen („Die Welt von gestern“) wehmütig beschrieben. Der Schwung, den der Kontinent hatte, war auch ein geistiger, zuvörderst aber ein wirtschaftlicher. Das war das Neue: das Tempo; die Vernetzung, die vor nationalen Grenzen nicht Halt machte; eine neue gegenseitige Abhängigkeit; ein Bevölkerungswachstums, das nur bei schnellen Umdrehungszahlen der Wirtschaft nicht zu Elend führen würde.

Eine industrielle Lebensordnung ist entstanden

In Europa war etwas völlig Neues entstanden: „eine industrielle Lebensordnung“. So schreibt es der Ökonom John Maynard Keynes, der an der Versailler Verhandlungen als Berater der britischen Delegation beteiligt war, in seiner noch immer äußerst lesenswerten Untersuchung „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“ (Berenberg Verlag). Dort zeigt er, wie in Versailles der Frieden verspielt und das Tor zu neuem Streit geöffnet wurde. Der Frieden hätte auf einem derart dicht besiedelten, derart nervösen und in der industriellen Moderne angekommenen Kontinent einer entschlossenen wirtschaftlichen Grundierung und Beschleunigung bedurft. Das sahen die Unterhändler von Versailles nicht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man es begriffen: Die EU ist das Ergebnis. Begreift man es jetzt in der Finanzkrise?

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