Deutschland im Spätfrühling 2021. Der quälende Streit zwischen Armin Laschet und Markus Söder war beigelegt. Ich musste mal raus. Gedanken sortieren. Schnell kam ich bei den grundsätzlichen Fragen an. Warum bin ich eigentlich in die Politik gegangen? Was habe ich erreicht? Kann ich überhaupt noch etwas erreichen?
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mir das alles anders vorgestellt. Als ich 2009 in den Bundestag einzog, wollte ich die Welt verändern. Ich wollte Bundesländer zusammenlegen, die Bildungspolitik zu einer nationalen Aufgabe machen und Bürokratie abschaffen. Ich wollte echte Reformen. Und zwar so richtig große, die strukturell greifen und unserem Land neuen Schwung verleihen.
Mit Elan allein kommt man nicht durch
Heute muss ich zugeben: Es wurden nur kleine Reformen. So konnte ich unter anderem meine Idee der Flexirente umsetzen, die längeres freiwilliges Arbeiten attraktiver macht. Andere Pflöcke kamen dazu, aber eben nur kleine. Ich musste schnell erfahren, dass ich mit meinem Elan allein nicht durchkam. Dass es dicke Bretter sind, die man in Berlin bohren muss, war mir klar. Aber dass die Bretter häufig nur bemalt werden, weil der Mut zum Bohren fehlt – das war mir nicht ganz klar. Wir waren immer im Krisenmodus unterwegs: erst die Finanz- und Eurokrise, dann die Flüchtlingskrise und wenig später die Corona-Krise. Der Krisenmodus wurde zum politischen Normalfall. Und das Tagesgeschäft band alle Kräfte.
Und jetzt sind wir noch eine Umdrehung weiter. Der Ukraine-Krieg ist jenseits dessen, was wir uns vorstellen konnten. Die Inflation steigt in ungeahnte Höhen. Die grundlegend falsche Zinspolitik der EZB entpuppt sich als Unsinn mit hohen Risiken für Deutschland und am Ende für die ganze Euro-Zone. Und dass sich Deutschland von russischem Erdgas abhängig gemacht hat, erwies sich als Verhängnis.
Aber soll das wieder bedeuten, dass wir alles andere liegen lassen? Dass wir es wieder versäumen, an all das heranzugehen, was wir an Herausforderungen schon seit Jahren vor uns herschieben? Dass wir wieder die Krise als Ausrede nutzen, warum etwas nicht geht? Das darf nicht sein. Unser soziales Sicherungssystem droht schon bald zu erodieren. Wir geben immer mehr Mittel ins Gesundheitssystem, doch beim Patienten kommt immer weniger an. Bei der Rente ist die Finanzierungslücke heute schon riesig, obwohl die geburtenstarken Jahrgänge erst in den nächsten Jahren in Rente gehen. Seit Jahren sehen wir das Dilemma. Nur: Es passiert nichts.
Dabei hat doch gerade die Corona-Krise offengelegt, wohin eine erstarrte Politik führt. Bei uns stehen die Faxgeräte nicht in den Museen, sondern in den Gesundheitsämtern. Schulen waren damit überfordert, den Unterricht per Videoschalte zu organisieren. In Ämtern stapelten sich Bauanträge und Zulassungsbescheide. Und während kleine Betriebe vor Ort ums Überleben kämpfen, blähten Behörden, Bundestag und Bundeskanzleramt sich weiter auf. Allein die Zahl der Stellen in den Ministerien stieg von 2012 bis 2021 um knapp 60 Prozent auf fast 29.000 an. Die Ampel-Regierung sattelt nochmals drauf: Von den 416 Ampel-Abgeordneten im Bundestag haben 49 ein Regierungsamt – so viel wie nie zuvor. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Jeder zehnte Abgeordnete aus der Regierungsfraktion bekleidet damit ein Regierungsamt – inklusive großzügigem Beamtenapparat.
Die Bürger im Land haben dafür kein Verständnis mehr. Als Bundestagsabgeordneter begegne ich täglich frustrierten Menschen. Ein Satz, den ich immer wieder höre, lautet: „Ihr tickt doch nicht richtig!“ So habe ich deshalb auch mein aktuelles Buch genannt und darin all diejenigen zu Wort kommen lassen, die an unserem Staat verzweifeln. Wer sich die Erlebnisse meiner Gesprächspartner durchliest, wird sich nicht mehr fragen, wieso die Bundestagswahl wahrscheinlich in 300 Berliner Wahllokalen wiederholt werden muss – sondern, warum nur in so wenigen?
Es geht um unser Geschäftsmodell
Mittlerweile geht es im Zuge der Energiekrise ums Ganze. Um unser Geschäftsmodell. Bislang haben wir günstige Energieimporte und Vorprodukte aus dem Ausland mit der Leistung unserer herausragenden Ingenieure gepaart. Das führte zu hochwertigen Produkten, die wir weltweit erfolgreich exportieren konnten. 23 Prozent der Bruttowertschöpfung kamen in Deutschland bislang aus der Industrie, in Frankreich sind es 13 Prozent und in Großbritannien zehn Prozent. Und künftig? Ein Drittel der deutschen Chemieunternehmen sieht sich in seiner Existenz bedroht. Große Investoren fahren ihr Engagement in Deutschland bereits zurück, weil ihr Vertrauen in unseren Standort schwindet.
Deutschland steht heute an einem Punkt ähnlich wie im Frühjahr 1997. Unser Land war damals mutlos und gelähmt. In seiner berühmten Berliner Rede konstatierte Bundespräsident Roman Herzog am 26. April 1997: „Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise. (…) Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. (...) Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen.“
Doch wo ist der „Ruck“, der jetzt durch Deutschland geht und die Bremsen löst? Wo sind die Reformen, die der Wirtschaft zu neuem Schwung verhelfen? Wir brauchen jetzt einen echten Mentalitätswandel. Es muss möglich sein, dass wir „einfach mal machen“ können, ohne dass jemand gleich sagt, warum etwas angeblich nicht geht. In meinem Buch stelle ich außerdem 15 Reformideen vor: etwa für eine Sozialstaatsbremse gegen den ausufernden Sozialstaat, für Technologieoffenheit und Innovationen, für eine Amtszeitbegrenzung für politische Spitzenämter, eine Begrenzung des Beamtenstatus auf hoheitliche Aufgaben oder eine „Föderalismusreform von unten“ mit bürokratiefreien Experimentierräumen.
Kaum ein Land hat bessere Rahmenbedingungen für so einen großen Aufbruch. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas und die viertgrößte der Welt. Die Beschäftigungsquote ist hoch, das Wachstumspotenzial durch neue Technologien wie künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Robotik ist gigantisch. Entscheidend für unseren weiteren Erfolg ist jedoch, dass wir Wohlstand und Fortschritt nicht als selbstverständlich erachten. Grundlage dafür sind Fleiß, Mut und echte Reformbereitschaft. Das Zeitfenster für Reformen ist geöffnet.
Der Autor gehört seit 2009 dem Bundestag an und ist stellvertretender Parteivorsitzender der CDU. Am 10.10. erscheint sein Buch „Die ticken doch nicht richtig! Warum Politik neu denken muss“ (Herder)