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Meinung EU-Gipfel

Zeit für neue Ehrlichkeit in den Beziehungen zur Türkei

EU-TURKEY/REPORT EU-TURKEY/REPORT
Die türkische Wirtschaft ist von der Corona-Krise hart getroffen worden. Erdogan erwartet jetzt Zugeständnisse der EU, damit es wieder zu einem Aufschwung kommt
Quelle: REUTERS
Ankara drängt die EU zu einer Zollunion, um die taumelnde heimische Wirtschaft zu stabilisieren. Das würde aber politische Erwartungen wecken, die Brüssel nie erfüllen könnte, meinen unsere Gastautoren. Ein Freihandelsabkommen reicht für den Moment.

Die EU-Türkei-Beziehungen befinden sich spätestens seit dem im Jahr 2016 gescheiterten Putschversuch in der Türkei in einer Abwärtsspirale. Die Liste der politischen Konflikte zwischen Ankara und den EU-Staaten ist lang. Dazu gehören unter anderem die Exploration von Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer unter Eskorte türkischer Kriegsschiffe und die Militärinterventionen der Türkei in Aserbaidschan, Libyen und Syrien.

Vor diesem Hintergrund wird der Rat der EU-Staats- und -Regierungschefs diese Woche die Beziehungen der Türkei zur EU beleuchten. Das ausgerufene Ziel beider Seiten ist eine sogenannte positive Agenda, die Vertrauen schaffen und Konflikte entschärfen soll. Beide haben klare Prioritäten formuliert:

Für die EU ist eine Lösung des geopolitischen Konflikts zwischen Griechenland/Zypern und der Türkei von großer Wichtigkeit. Eine besondere Bedeutung hat der Flüchtlingsdeal, auf den sich die Türkei und die EU im Jahr 2016 geeinigt hatten. Der Vertrag beendete den Zustrom von Asylsuchenden aus Syrien nach Griechenland und weiter nach Deutschland. Zuvor waren binnen kürzester Zeit über eine Million Flüchtlinge in der EU angekommen.

Für ihre Flüchtlingspolitik erhielt die Türkei in den vergangenen Jahren von der EU sechs Milliarden Euro – jedoch nicht direkt, sondern über Nichtregierungsorganisationen. Auf dem Gipfel will die EU den Lastenausgleich mit der Türkei für die nächsten Jahre neu gestalten. Die EU will auf keinen Fall eine neue Flüchtlingswelle erleben.

Zu den Top-Prioritäten der Türken gehört mehr Geld für die nahezu vier Millionen syrischen Flüchtlinge, die wohl noch lange in der Türkei verbleiben werden. Ankara möchte, dass die EU zukünftige Hilfsmittel direkt an die türkische Regierung auszahlt. Darüber hinaus fordert die Türkei eine zügige Modernisierung der veralteten Zollunion, die den Güterhandel zwischen der EU und der Türkei regelt. Und schließlich verlangt sie die Umsetzung der seit Jahren geforderten Visa-Liberalisierung für türkische Bürger.

Diese politischen Prioritäten machen deutlich, dass die EU-Türkei-Beziehungen nur noch durch kurzfristige Konflikte und Interessen geprägt sind. Für Erdogan ist eine Stabilisierung der türkischen Wirtschaft von größter Bedeutung. Die türkische Lira hat im letzten Jahr dramatisch an Wert verloren. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt 16 Prozent unter dem von vor zehn Jahren, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Corona-Krise verschärft die Situation weiter. Eine modernisierte Zollunion könnte einen wertvollen Impuls liefern, denn 50 Prozent des türkischen Handels finden mit der EU statt.

Die Zollunion erfordert politische Integration

Der Fokus auf einen kurzfristigen Tauschhandel ist nachvollziehbar: Die Türkei bekommt wirtschaftliche Hilfen; im Gegenzug hält sie der EU in Sachen Migration den Rücken frei. Schön und gut. Aber allen muss klar sein, dass ein Ausgleich mit der Türkei durch eine modernisierte Zollunion keine nachhaltige Lösung wäre. Sie bedeutet, dass sich die Türkei der EU-Handelspolitik unterordnet.

Die Zollunion bedeutet eine der tiefsten Integrationsformen eines Landes in die EU. Sie ist nur sinnvoll, wenn langfristig eine EU-Vollmitgliedschaft intendiert ist. Die Zollunion ist nicht bloß ein Handelsabkommen, sie erfordert auch eine weitgehende politische Integration.

Heute ist nicht nur politischen Insidern klar, dass eine politische Integration der Türkei in die EU bis auf Weiteres ausgeschlossen ist. Die jüngsten innenpolitischen Entwicklungen unterstreichen dies. So ist die Türkei gerade aus der Istanbul-Konvention zum Frauenschutz ausgestiegen. Der Demokratischen Volkspartei (HDP) des inhaftierten Kurdenführers Selahattin Demirtas droht ein Verbot. Das Rechtssystem des Landes ist nachhaltig politisch beschädigt.

Türkei wird versuchen, maximalen Nutzen aus der Lage zu ziehen

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Die grundsätzliche Bereitschaft der EU, die bestehende Zollunion zu modernisieren, mag guten Willen signalisieren, sie ist aber problematisch. Sie ignoriert die veränderten Rahmenbedingungen. Selbst unter einer anderen Führung wird die Türkei in Zukunft auf ihre politische und wirtschaftliche Selbstständigkeit pochen. Sie wird versuchen, aus ihrer geografischen Lage als Brücken-Staat zwischen Europa und Asien maximalen Nutzen zu ziehen. Eine Zollunion mit der EU würde dieses Ansinnen verunmöglichen, und das nicht einmal zum Nutzen der EU.

Für eine zukunftsorientierte Türkei-Politik muss die EU dringend ihre Annahmen revidieren. Damit sollte sie bereits auf dem kommenden EU-Gipfel beginnen. Konkret sollte die Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Türkei nicht durch Korrekturen an der Zollunion, sondern durch ein neues umfassendes Freihandelsabkommen nach dem Vorbild des neuen Abkommens mit dem Vereinigten Königreich erreicht werden.

Dies erfordert eine geringere politische Koordination zwischen der Türkei und der EU. Ankara würde Freiheitsgrade für eine eigene Handelspolitik gewinnen, von der auch Europa profitieren kann. Für den EU-Gipfel bedeutet das, die EU und die Türkei sollten sich nicht nur mit einer „positiven“, sondern vor allem mit einer „ehrlichen“ Agenda befassen.

Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, steht an der Förde in Kiel. Felbermayr hält die Verteilung der staatlichen Corona-Hilfen für ungerecht. +++ dpa-Bildfunk +++
Quelle: picture alliance/dpa

Gabriel Felbermayr ist Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Professor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Prof. Dr. Erdal Yalçin Volkswirtschaftslehre / Internationale Wirtschaftsbeziehungen Kiel Institute for the World Economy Kontakt: Guido Warlimont Leiter Kommunikation/Head of Communications Institut für Weltwirtschaft Kiel Kiel Institute for the World Economy www.ifw-kiel.de T +49 431 8814-629 E guido.warlimont@ifw-kiel.de
Quelle: E. Yalcin


Erdal Yalcin ist Professor für Volkswirtschaftslehre/Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Konstanz für Technik, Wirtschaft und Gestaltung.

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