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  4. Wehrbeauftragter Hans-Peter Bartels: Die Europa-Armee kommt

Meinung Verteidigung

Ein Europa, eine Armee

Auf dem Weg zur EU-Armee? Soldaten der Deutsch-Französischen Brigade bei einem Appell im südbadischen Müllheim Auf dem Weg zur EU-Armee? Soldaten der Deutsch-Französischen Brigade bei einem Appell im südbadischen Müllheim
Auf dem Weg zur EU-Armee? Soldaten der Deutsch-Französischen Brigade bei einem Appell im südbadischen Müllheim
Quelle: picture alliance / Winfried Roth
Noch ist die Zeit nicht reif für eine europäische Streitkraft, schreibt der Wehrbeauftragte Bartels (SPD) im Gastbeitrag. Aber es gebe bereits zahlreiche Formen der militärischen Zusammenarbeit. Er sieht allmählich eine Europa-Armee entstehen.

In den heutigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt es 1,5 Millionen Soldatinnen und Soldaten. 1,4 Millionen dieser „EU-Soldaten“ sind gleichzeitig auch „Nato-Soldaten“.

Die USA unterhalten Streitkräfte mit 1,3 Millionen Soldaten, es ist eine Armee. Europa hat 32 verbündete Armeen, wenn man zu den (noch) 28 EU-Nationen die Nur-Nato-Mitglieder Albanien, Montenegro, Norwegen und demnächst Nord-Mazedonien zählt, vom unbewaffneten Island einmal abgesehen. Aber selbst unter den größten Armeen ist keine wirklich groß. Polen hat 118.000, Deutschland 183.000, Portugal 27.000, Slowenien 7000 und Norwegen 23.000 Soldatinnen und Soldaten. Das deutsche Fachwort dafür lautet Kleinstaaterei.

Auch die europäischen Sonderfälle Großbritannien und Frankreich mit ihren Atomwaffen, Stützpunkten und Flugzeugträgern wären allein nicht weltweit durchhaltefähig, wenn sie unilateral vorgehen wollten. Aber dafür hat man ja Bündnisse, um nicht allein in der Welt zu stehen. Und Bündnisse sind umso effektiver und abschreckender, je besser die Streitkräfte der einzelnen Nationen miteinander verbunden sind, je höher der Grad der Interoperabilität und Standardisierung, je tiefer die Integration bei Ausbildung, Verfahren, Sprache und Führung ist.

Tatsächlich war der Grad der Zusammenarbeit in der alten Nato des Kalten Krieges in Westeuropa schon einmal höher, als er es in der großen west-östlichen Allianz von heute ist. Die Gefahr des Dritten Weltkrieges ließ nationale Besonderheiten an Bedeutung verlieren. Nach 1990 aber schien die Uhr lange Zeit rückwärts zu laufen. In West und Ost stand einer Renationalisierung wenig im Wege. Jedes nationale Militär sparte und vertiefte Fähigkeitslücken, die andere schon aufgerissen hatten.

Und doch erfordert jeder Bündniszweck, spätestens seit 2014 wieder, die gemeinsame Handlungsfähigkeit, sei es im multinationalen Out-of-Area-Einsatz, sei es bei der klassischen kollektiven Verteidigung. Aus deutscher Perspektive gilt: Alles, was wir militärisch tun, tun wir gemeinsam mit anderen im Bündnis. Die Bundeswehr ist keine autonome Universalarmee, musste es schon zu Zeiten des Kalten Krieges nie sein.

Immer multinational!

Im Weißbuch „Zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr“ von 1985 ist eine Karte Westdeutschlands abgedruckt. „Das Heer in der Vorneverteidigung“ steht darüber. Die Karte zeigt die Gefechtsstreifen aller in der Bundesrepublik stationierten alliierten Korps entlang der innerdeutschen Grenze. Es beginnt im Norden mit einem deutsch-dänischen Korps, südlich der Elbe geht es weiter mit einem niederländischen, dann einem deutschen, dann einem britischen, dann einem belgischen, dann wieder einem deutschen Korps, dann kommen zwei amerikanische und schließlich ein deutsches Korps. In Reserve dahinter: Franzosen und Kanadier. So sah die westdeutsche Landesverteidigung aus.

Das Verbandsabzeichen des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster
Das Verbandsabzeichen des Deutsch-Niederländischen Korps in Münster
Quelle: picture alliance / dpa

An der Wand in meinem Büro hängt die Reproduktion einer Karte aus Beständen der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR. Sie zeigt ebenfalls die innerdeutsche Grenze und viele rote Pfeile, die durch die Bundesrepublik Richtung Westen weit vorstoßen. Die Karte gehörte zur Übung „Waffenbrüderschaft 80“ des Warschauer Pakts. Auch die NVA war in ein Bündnis hineingegründet worden, trotz des Namens wahrlich keine Armee für nationale Zwecke.

Noch eine dritte historische Reminiszenz: Vor wenigen Monaten wurde in der Normandie der 75. Jahrestag des D-Day gefeiert, der geglückten Landung angloamerikanischer Truppen in Frankreich am 6. Juni 1944. Die Landung durfte nicht fehlschlagen. Auf der anderen Seite des Kanals stand eine unkalkulierbar starke deutsche Verteidigung. Also musste eine wirkliche Allianz auf der Truppenebene von Hunderttausenden, später Millionen Soldaten geschaffen werden: taktische Verfahren, operatives Vorgehen, Befehlswege und Nachschub – nichts war einheitlich. Aber wie bei „Apollo 13“, das Eckige musste ins Runde, und am Ende passte es. Deshalb ging die Geschichte des 20. Jahrhunderts so weiter, wie wir sie kennen.

D-Day - Landung der Alliierten in der Normandie

Vor 75 Jahren landeten 150 Tausend alliierte Soldaten an den Küsten der Normandie. Zum Gedenken treffen sich Veteranen und Politiker zu Festakten, beginnend in Portsmout in Großbritannien.

Quelle: WELT/ Sandra Saatmann

Alles spricht dafür, Streitkräfte am besten von Anfang an so zu organisieren, wie sie eingesetzt werden sollen. Krisenbewältigung out of area? Immer multinational! Landes- und Bündnisverteidigung? Immer multinational! Nur den Grundbetrieb, die Ausbildung, den Alltag gestaltet man immer noch streng national – als ob genau das den Kern der staatlichen Souveränität darstellt.

Eine Gruppe nur um Deutschland herum ist zu wenig

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Ist jetzt also schon der Zeitpunkt gekommen, die vielen militärischen Einzelteile in Europa zum kompletten Ganzen einer Europäischen Armee zusammenzufügen? Ich glaube nein. Timing ist wichtig. Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt würden europäische Verhandlungen über die Gründung einer Europäischen Armee eher Abstoßungsreaktionen, Zwietracht und Verhärtungen hervorrufen. Großbritannien wäre erklärtermaßen nicht dabei, der Osten könnte mauern, Frankreich ist aller Rhetorik zum Trotz selbst noch nicht so weit, und eine europäische Armeegruppe nur um Deutschland herum wäre zu wenig.

Nicht, dass man sich prinzipiell nicht einigen könnte. Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg hatten 1952 schon einmal einen Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) geschlossen, als „Europäische Verteidigungsstreitkräfte“ dem Nato-Oberbefehlshaber direkt unterstellt. Bundestag und Bundesrat hatten den EVG-Vertrag, der dem westlichen Bündnis deutsche Soldaten bescheren sollte, ohne dafür wieder eine deutsche Armee gründen zu müssen, schon ratifiziert. Aber die französische Nationalversammlung stellte sich 1954 mit neuen Mehrheiten quer. Und so kam es 1955 zur Gründung der Bundeswehr.

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Europa kann sich einigen und bisher nationale Souveränitätsrechte auf höherer Ebene zusammenfassen. Die Einführung des Euro ist ein Beispiel dafür oder auch der Schengen-Raum ohne Passkontrollen an den Binnengrenzen. Aber wie beim Euro-Projekt, das in den 70er-Jahren startete und dann 2002 zu richtigem Geld wurde, dürfte auch die Entwicklung zur gemeinsamen Europäischen Armee ein Generationenprojekt sein. Gestartet ist es ganz unscheinbar irgendwann im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Man hat es kaum bemerkt.

Was die Europäisierung der Verteidigung heute braucht, ist lange noch kein Gründungsvertrag, sondern Praxis. Ich finde, eine gute Formel, auf die man diese Praxisorientierung bringen kann, wären „Inseln funktionierender Kooperation“. Aus rein nationalen Fähigkeiten müssen nach und nach multinationale Inseln der Kooperation werden. Nicht jeder arbeitet mit jedem zusammen, nicht alles ist schon mit allem planvoll verbunden. Auf das Funktionieren kommt es an, lieber klein und gut als groß und dysfunktional. Das Militär hat ja in der Hauptsache immer noch reale Aufträge zu erfüllen.

So wachsen, wenn es gut geht, die Inseln funktionierender Kooperation, werden größer, es werden mehr, manche wachsen zusammen. So bilden sie nach und nach Festland. Dieses Bild könnte für das stehen, was in Europa im Moment tatsächlich passiert. Wir erleben so etwas wie die normative Kraft des Faktischen in der Praxis. Auf drei Wegen der Europäisierung kommt das Europa der Verteidigung gegenwärtig voran.

Die drei Wege heißen erstens Framework Nation Concept (FNC), hier geht es um die bessere Kooperation Nato-Europas, zweitens Permanent Structured Cooperation (PESCO), hier kooperiert EU-Europa, und drittens – ohne Namen – gibt es die bilaterale und multilaterale Kooperation einzelner Nationen miteinander, etwa niederländische Kampfbrigaden integriert in deutsche Heeresdivisionen oder eine neue deutsch-französische Lufttransportstaffel, Tendenz: rasant zunehmend.

Wenn auf diesen Wegen in Zukunft mehr und mehr Festland gewonnen ist, wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem es effektiver sein wird, das Ganze nicht mehr nach den Rationalitäten der Inseln, sondern nach einem einheitlichen Regelwerk Europas zu organisieren und zu führen. Es käme zur feierlichen Gründung einer Europäischen Armee, in der 20 oder 30 nationale Armeen dann aufgehoben und verschmolzen wären. „Verschmelzung“ ist übrigens ein Begriff aus dem 1952er-EVG-Vertrag.

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Vielleicht gelingt dieses Integrationswerk, noch bevor China die Amerikaner militärisch überholt hat. Spätestens dann wären wohl auch die USA wirklich froh über einen Bündnispartner, der zur Selbstbehauptung des Westens einen substanziellen Beitrag leistet.

Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels, stellt am 24.01.2017 in der Bundespressekonferenz in Berlin seinen Jahresbericht vor. (zu dpa «Wehrbeauftragter fordert mehr Tempo bei Bundeswehr-Reformen» vom 24.01.2017) Foto: Rainer Jensen/dpa | Verwendung weltweit
Quelle: picture alliance / Rainer Jensen

Der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), veröffentlicht in diesen Tagen unter dem Titel „Deutschland und das Europa der Verteidigung“ eine sicherheitspolitische Standortbestimmung. Dieser Beitrag dokumentiert Auszüge daraus.

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