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Bürgerrechte gelten auch im digitalen Zeitalter

Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU)
Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU)
Quelle: dpa
Klick für Klick produzieren wir im weltweiten Netz Daten, mit denen Konzerne Geschäfte machen. Europa sollte die Chance nutzen, Grenzen zu ziehen und die Bürger zu schützen, schreibt die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Gastbeitrag.

Mehr als drei Jahrzehnte ist es her, dass Shoshana Zuboff ihr Buch „The Age of the Smart Machine“ veröffentlichte. Sie beschrieb schon damals, wie Technologien unser Leben und unsere Berufswege beeinflussen werden, und sagte viele der aktuellen Herausforderungen, Trends und Entwicklungen voraus. Das Buch war seiner Zeit voraus. Natürlich haben sich seitdem die Welt um uns herum und die Technologien, die wir jeden Tag nutzen, sehr verändert.

In den letzten 20 Jahren haben wir uns allmählich mit einem World Wide Web verwoben, das enorme und ungeahnte Vorteile hat. Aber wie jede bahnbrechende Veränderung birgt diese auch große Risiken. Und deshalb brauchen wir Menschen, die kritisch den Wandel begleiten und die vorherrschende Meinung infrage stellen.

Das hat Shoshana Zuboff während ihrer gesamten Karriere getan, sowohl als Autorin als auch durch ihre Lehre und Forschung an der Universität in Harvard. Ihre Ideen, Forschung und Veröffentlichungen verändern Märkte und beeinflussen die Kultur. Ihre Pionierarbeit hat anderen die Augen geöffnet für die gesellschaftlichen Auswirkungen des digitalen Marktes.

Ihr neuestes Werk, „The Age of Surveillance Capitalism“, ist das beste Beispiel dafür. Das Fazit ist hart: „Der Überwachungskapitalismus weiß, entscheidet und entscheidet, wer entscheidet.“ Das Buch zeichnet ein drastisches Bild jenes Kapitalismus, der im digitalen Zeitalter durch die großen digitalen Plattformen entstanden ist.

Wenn Sie auf Google nach meinem Namen suchen, erhalten Sie Tausende Einträge in weniger als einer halben Sekunde in vielen verschiedenen Sprachen. Sie werden feststellen, dass ich als Ärztin ausgebildet und heute Politikerin bin. Sie werden erfahren, welche Tiere ich am liebsten mag und wie viele Kinder ich habe. Aber das ist erst der Anfang. Die Plattformen interessieren sich weniger für das, was ich gestern gemacht habe.

Ihr Interesse zielt auf das, was ich morgen tun werde, und vor allem warum ich das tue. Es geht darum, mein Verhalten, unser Verhalten möglichst genau vorherzusagen und letztlich zu beeinflussen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Niemand zwingt uns, unsere Absichten, Wünsche, Vorlieben, Gewohnheiten und Routinen offenzulegen. Wir selbst tun dies freimütig, indem wir unsere Daten für allerlei Dienstleistungen herschenken, die uns das Leben erleichtern. Klick für Klick für Klick.

Was mit den gesammelten Verhaltensdaten geschieht, beschrieb Shoshana Zuboff 2016. Sie waren „der alles verändernde kostenlose Aktivposten, den man in ein marktfähiges Produkt verwandeln konnte. Entscheidend ist hier, dass dieser neue Markt nicht auf einen Austausch mit Nutzern ausgerichtet ist, sondern auf den Handel mit anderen Unternehmen, die es verstehen, mit Vorhersagen des künftigen Verhaltens von Nutzern Geld zu verdienen“.

Europäischer Ansatz im digitalen Zeitalter

Aber Zuboff hebt auch positive Neuerungen hervor. Sie schreibt bereits 2016: „In der Rückschau werden wir das Durchsetzen eines ,Rechts auf Vergessen‘ in Europa als frühen Meilenstein einer allmählichen Erkenntnis der wahren Dimensionen dieser Herausforderung erkennen.“

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Vielleicht war es kein Zufall, dass Shoshana Zuboffs Buch „The Age of Surveillance Capitalism“ zuerst in Europa veröffentlicht wurde. Ihre Botschaft ist, dass wir – die Europäer – mit unserem eigenen Weg die digitale Welt gestalten können. Wir glauben an einen Ansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Für Europa haben Werte, Rechte Einzelner, Vertrauen und Rechtsstaatlichkeit Priorität.

Dies muss auch für den europäischen Ansatz im digitalen Zeitalter gelten. Neue Technologien werden für uns niemals eine Neuordnung dieser Prioritäten bedeuten. Für uns ist der einzelne Mensch immer mehr als nur der Teil einer größeren Gruppe. Er oder sie ist auch nie ausschließlich Kunde oder Datenpunkt unter anderen. Analog oder digital: Die Freiheit zu entscheiden muss in den Händen unserer Bürgerinnen und Bürger liegen.

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Shoshana Zuboff fordert einen neuen „Impfstoff“ gegen die neuen Risiken. Ihr zufolge müssen wir in die Mechanismen eingreifen, die „Überwachungsprofite“ schaffen und dadurch den Vorrang der liberalen Ordnung in Märkten des 21. Jahrhunderts sichern können. Und ja, es gibt Möglichkeiten, zu handeln. Für jeden einzelnen Menschen. Aber natürlich auch in den nationalen Regierungen und auf der Ebene der Europäischen Union.

Wir können und haben die Pflicht, an einem besseren System zu arbeiten, gegründet auf unseren Werten der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Tatsächlich haben wir Europäer wichtige erste Schritte in Bezug auf das Urheberrecht, die faire Besteuerung und die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) unternommen. Mit der DSGVO hat Europa einen einzigartigen multinationalen Ansatz geliefert. Niemand sonst hätte es tun können oder wollen.

In den USA steht der Markt traditionell an erster Stelle, und der Staat ist grundsätzlich zurückhaltend. In Asien ist es oft umgekehrt. Der Staat neigt dazu zu dominieren, und der Einzelne nimmt gegenüber der Gruppe eine untergeordnete Rolle ein. Russland hat gerade ein Gesetz eingeführt, das Internet-Provider verpflichtet, Technik zu installieren, die den staatlichen Behörden den direkten Zugriff auf ihre Kanäle garantiert.

Europa dagegen hat eine lange Tradition, die Stellung von Staat und Markt auszubalancieren und gleichzeitig dem Individuum besondere Priorität einzuräumen. Das kann zum großen Vorteil Europas werden bei der Gestaltung des digitalen Zeitalters.

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Natürlich ist das für uns kein Selbstläufer. Wir müssen das Tempo hochhalten. Die europäischen Unternehmen haben die DSGVO umgesetzt und exportieren sie dadurch. Länder von Japan über Argentinien bis Südkorea sind Europa gefolgt. Die DSGVO hat befeuert, dass das Thema in Brasilien, Indien, Kenia und zunehmend auch in den USA debattiert wird. Dies hat bereits neue Ökosysteme ins Leben gerufen, die Maßstäbe für andere setzen.

Europa wird hart arbeiten müssen, um sein Gewicht im digitalen Zeitalter zu erhöhen. Der langfristige Erfolg ist dabei auch eine Frage der Souveränität. Technologisch müssen wir auf europäische Lösungen und Standards setzen (AI, G5, Nächste-Generation-Clouds). Zum Schutz des Individuums brauchen wir zeitgleich einen Zweischritt: Einerseits müssen wir die digitale Kompetenz der Bürger erhöhen und anderseits Regeln für Unternehmen schaffen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten sicherstellen.

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Nicht zuletzt wird es auch darum gehen, die hohen Standards der Rechtsstaatlichkeit und der kulturellen Offenheit aufrechtzuerhalten, die Europa für die besten Talente des digitalen Zeitalters so attraktiv machen. Wenn wir diese Bedingungen erfüllen, hat Europa eine faire Chance, die digitale Welt zu gestalten.

Dieser Beitrag der designierten EU-Kommissionspräsidentin ist die leicht gekürzte Laudatio auf Shoshana Zuboff, die am 7. November mit dem Axel Springer Award ausgezeichnet wurde.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Quelle: WamS

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