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Meinung Ausländerfeindlich

Wenn Sachsen beim Analytiker auf der Couch liegt

Wie tickt Sachsen, was denkt der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich? Eine Montage Wie tickt Sachsen, was denkt der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich? Eine Montage
Wie tickt Sachsen, was denkt der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich? Eine Montage
Quelle: Welt HD
Geschwisterneid und ein gestörtes Mutter-Kind-Verhältnis – das sind die Merkmale, an denen die sächsischen Landeskinder leiden, erklärt Psychoanalytiker Schmidbauer.

Warum gerade Sachsen? Gegenwärtig scheint es in keinem anderen Bundesland einen so günstigen Nährboden für rechtsradikale Gewalt zu geben wie dort. Kurt Biedenkopf, CDU-Urgestein und erster Ministerpräsident des Freistaats, hat während seiner Amtszeit behauptet, Sachsen sei gegen Rechtsradikalismus immun. Niemand hat sich damals vorstellen wollen, dass es gerade diese Gefahr ist, die uns Jahrzehnte später beschäftigt.

Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Die deutsche Ehe. Liebe im Schatten der Geschichte“ (Orell Füssli).
Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Die deutsche Ehe. Liebe im Schatten der Geschichte“ (Orell Fü...ssli).
Quelle: picture-alliance/ dpa

Es führt zu weit, diese Fehlurteile mit dem historischen Irrtum der 20er-Jahre zu vergleichen, das Land der Dichter und Denker sei gegen primitiven Rassismus immun. Eine solche Immunität gibt es nicht. Psychoanalytiker sind es gewohnt, Fragestellungen umzudrehen. Sie finden es weder unverständlich noch im Grund unerwartet, dass beispielsweise Kinder ihre Geschwister hassen und ihnen den Tod wünschen. Sie fragen sich eher nach den Bedingungen, unter denen es nicht hinreichend gelingt, solche bösen Kräfte zu neutralisieren und aufzubauen, was als Geschwisterliebe zwar selten rein, aber keineswegs unmöglich ist.

Sachsen hat eine reiche und stolze Geschichte; es ähnelt in diesem Punkt, ebenso wie in seinen Schwierigkeiten, sich unter das Dach des preußischen Kaiserreichs zu begeben, dem Freistaat Bayern. August der Starke, der in Dresden unvergessen ist, war nicht nur sächsischer Kurfürst, sondern auch polnischer König. Immer wieder hat Sachsen mehr oder weniger heftig mit dem autoritären Preußen gerungen.

Die Sehnsucht, respektiert zu werden

Ähnlich wie den bayerischen Herzog hat Napoleon auch den Kurfürsten von Sachsen zum König erhoben und zu seinem Bundesgenossen gemacht. Das Land zahlte einen hohen Preis, verlor Tausende von Soldaten in Napoleons Russlandabenteuer und litt in der Völkerschlacht bei Leipzig unter den Befreiungskämpfen – auf der falschen Seite, der Napoleons. König Friedrich August wurde nach dessen Niederlage von den Preußen eingesperrt und kam erst 1815 wieder frei. Im Wiener Kongress wollte Preußen Sachsen schlucken. Metternich verhinderte das, aber das Land verlor viele Provinzen.

Wie in Bayern gab es auch in Sachsen viel Opposition gegen „die Preußen“, verbunden mit einem ausgeprägten Stolz auf die eigene Kultur, vor allem den eigenen Erfindungsgeist. Goethe begann sein Jurastudium in Leipzig; so gut war der Ruf der dortigen Universität. Industrie, Bergbau, Verlagswesen, Landwirtschaft – in vielen Bereichen nahm Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert einen Spitzenplatz ein.

Das Bedürfnis der sächsischen Bevölkerung, respektiert zu werden und eine eigene Identität zu behaupten, ließ sich auch durch den Versuch der DDR-Regierung nicht unterdrücken, Sachsen von der Landkarte verschwinden zu lassen. Obwohl 1946 die erste Wahl zum sächsischen Landtag stattfand und später auch eine eigene Landesverfassung verabschiedet wurde, gab es seit 1952 Sachsen nicht mehr. Es wurde per Gesetz in drei Bezirke aufgelöst (Dresden, Leipzig und Chemnitz).

Landesväter wie Kurt Biedenkopf

Die Wiedervereinigung verhalf dem sächsischen Nationalgefühl zu neuem Aufschwung. Die Umtaufe von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt wurde ebenso rückgängig gemacht wie die Auflösung des Landes. Im Oktober 1990 wurde Sachsen als Land der Bundesrepublik neu gebildet und übernahm (ebenso wie Bayern im Jahr 1945) die Bezeichnung „Freistaat“, ein Zeichen für das Bestreben, die verlorene Größe und Identität möglichst schnell und energisch wiederzufinden.

Rechtsextremen-Problem in Sachsen größer als angenommen

Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat eingeräumt, dass sein Bundesland größere Probleme mit Rechtsextremismus hat als bisher angenommen. „Das, was in Sachsen geschehen ist, beschämt uns”, so Tillich.

Quelle: Die Welt

Einfach war das nicht, und hier liegt wohl auch eine der Wurzeln für eine wachsende Unzufriedenheit und für Gefühle, wieder einmal von Berlin im Stich gelassen und übervorteilt zu werden. Seit 1990 gingen durch Abwanderung und fallende Geburtenraten dem Freistaat 600.000 Menschen verloren. Die Wiedervereinigung führte in eine Wirtschaftskrise, von der sich der Freistaat nur langsam erholte; viele Betriebe wurden aufgelöst, Arbeiter entlassen. Als sicher geglaubte Lebensläufe zerfielen.

Landesväter wie Kurt Biedenkopf wurden allmählich, allen Bemühungen zum Trotz, zum Symbol für enttäuschte Erwartungen. Es ist psychologisch weit zuträglicher, sich aus kleinen Anfängen hochzuarbeiten, als erst einmal ein riesiges Versprechen zu erhalten und dann feststellen zu müssen, dass sich die Geber überschätzt haben und nun an allen Ecken und Enden knausern.

Angst vor dem fiktiven Fremden

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So ähnlich haben Bürger der neuen Bundesländer die Währungsunion, das Versprechen der blühenden Landschaften und dann den hektischen, von vielen Ungerechtigkeiten geprägten Umbau der eigenen Wirtschaft und der eigenen Traditionen erlebt. Manche suchten nach einer Kraft, die sich dem alten Sozialismus so gut wie der Wessi-Demokratie entgegenstellte. Sie fanden sie in dem nationalen Gedankengut der Rechtsradikalen.

Es scheint nicht überflüssig, festzustellen, dass der überwiegende Anteil der sächsischen Bürger nicht weniger weltoffen, hilfsbereit und tolerant ist als die Menschen in anderen Bundesländern. Geschrei macht neugierig, aber wer es zu wichtig nimmt, läuft auch Gefahr, denen Unrecht zu tun, die nicht schreien. Er beginnt, ihre Zahl und ihren realen Einfluss zu unterschätzen.

Wer den unbewussten Dimensionen des in Sachsen wachsenden Grolls mit seinen islam- und flüchtlingsfeindlichen Parolen nachgeht, begegnet immer wieder einer merkwürdigen Vertauschung. In Sachsen ist der reale Anteil an „Fremden“ erheblich geringer geblieben als in Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Es hat viele Betrachter verwundert, dass dort dennoch die Hasspotenziale schneller und nachdrücklicher gewachsen sind als anderswo.

Deutschland droht in die Hände von Lügnern zu fallen, die das Volk täuschen

Solche Fakten verwundern den Psychoanalytiker nicht. Er begegnet täglich der Tatsache, dass sich Menschen erheblich mehr vor Eventualitäten fürchten als vor der Realität. Im Lampenfieber peinigen Ängste vor allen erdenklichen Gefahren den Schauspieler; steht er dann auf der Bühne, beruhigt er sich schnell, weil er handeln kann und bemerkt, dass ihm sein Auftritt gelingt. Oder denken wir an die männliche Panik angesichts einer Schwangerschaft und vergleichen sie mit der Fähigkeit, sich auf das reale Kind einzustellen, ja sich sogar darüber zu freuen, dass man nicht die Flucht ergriffen hat.

Inhaltlich lässt sich aus den sächsischen Parolen (deren Echo überall in Deutschland hörbar ist) etwas wie Geschwisterneid heraushören: Die verblendete Mutter Deutschland (deren undankbare Rolle Angela Merkel zugefallen ist) kümmert sich liebevoll und verschwenderisch um wertlose Fremde, während sie die eigenen Kinder darben lässt. Deutschland droht in die Hände von Lügnern zu fallen, die das Volk täuschen.

Die in den realen wirtschaftlichen Erfolgen Sachsens längst überwundene ökonomische und soziale Traumatisierung nach der Wiedervereinigung wird sich wiederholen, und diese Wiederholung wird schlimmer sein als alles, was damals geschehen ist. Wehret den Anfängen! Wir sind die Einzigen, die wissen, was Sache ist, und den Mut haben, das auch laut genug zu sagen!

Krause Ideologie der Pegida

Die relative Macht dieser Fantasien in Sachsen und vor allem in Dresden hängt damit zusammen, dass der gegenwärtige Freistaat viele Kränkungen durch die Übermacht Berlins verarbeiten musste und muss. Darüber hinaus ist Dresden zum Symbol eines Leidens am Bombenkrieg geworden, das bis heute in vielen Familien nachwirkt. Solche Einflüsse werden häufig unterschätzt, lassen sich aber immer wieder beobachten. Eltern, die selbst traumatische Erfahrungen durchlebt haben, geben an ihre Kinder eine erhöhte Angstbereitschaft weiter.

Pegida-Anhänger auf dem Dresdener Neumarkt im Februar 2016
Pegida-Anhänger auf dem Dresdener Neumarkt im Februar 2016
Quelle: dpa
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Eine der Reaktionen auf solche Ängste sind die dem Rechtsradikalismus durchaus zuarbeitende Vorstellungen, aufgerufen zu sein, zu erlösen und zu belehren. In der Tat spielen in der krausen Ideologie von Pegida Größenvorstellungen eine wichtige Rolle. Es geht um nichts weniger als um die Rettung des Abendlandes, als seien die verstörten Bürgerkriegsflüchtlinge an unseren Grenzen nicht von den Heerscharen der Araber zu unterscheiden, die im frühen Mittelalter Spanien und Sizilien eroberten.

In München oder Berlin gehört ein (gefühlter) Fremdenanteil von 30 Prozent zu den Selbstverständlichkeiten einer U-Bahn-Fahrt. Wer unterwegs ist, hat ausgiebig Gelegenheit, die Normalität dieser Situation zu erkennen und sich an sie zu gewöhnen. Es wäre ein politischer Fehler, wenn sich die sächsische Regierung scheuen würde, ihren vielen guten Bürgern und ihren wenigen auffälligen Krakeelern einen gerechten Anteil an Flüchtlingen zuzumuten und so dafür zu sorgen, dass sich die gegenwärtigen Ängste in einem gemeinsamen Alltag mäßigen.

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